Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
er sich nicht die Zeit genommen hatte, hineinzuschauen. Besonders neugierig war er auf die Pfeiler der Arkaden. Gewöhnlich handelte es sich um dicke Säulen, aus deren oberen Enden die Bögen hervorwuchsen: nach Norden und Süden die Verbindungsbögen zu den benachbarten Arkadensäulen sowie ein weiterer, entweder nach Osten oder nach Westen geführter Bogen, der die Verbindung zum Seitenschiff schuf. Tom gefiel diese Lösung nicht; ein Bogen, der einer runden Säule entsprang, bot nach seinem Gefühl keinen schönen Anblick. In seiner Kathedrale würden Bündelpfeiler stehen, und jede einzelne Rippe sollte am oberen Ende in einen Bogen übergehen – eine Lösung, die ebenso elegant wie logisch war.
Er malte sich die Ornamente der Bögen aus. Geometrische Formen waren am häufigsten, denn das Meißeln von Zickzacklinien und Rautenmustern erforderte nur wenig künstlerisches Geschick. Tom indessen schwebten Blattfriese vor; sie milderten die kantige Regelmäßigkeit der Steine und verliehen ihnen einen Hauch Natur.
Bis weit in den Nachmittag hinein beschäftigte er sich im Geiste mit seiner imaginären Kathedrale. Dann trippelte eine schmale, blonde Gestalt über die Brücke und passierte die Häuser an der Kreuzung. Martha! An der Abzweigung zögerte sie kurz, bevor sie sich für den richtigen Weg entschied. Tom beobachtete, wie sie die Stirn runzelte; sie war offensichtlich beunruhigt, weil sie ihn noch nicht gefunden hatte. Erst als sie gleichauf mit ihm war, rief er sie mit leiser Stimme an: »Martha!«
Sie stieß einen Freudenschrei aus, als sie seiner ansichtig wurde, und sprang über den Graben. »Das ist von Mama«, sagte sie und holte aus ihrem Umhang eine Pastete mit Rindfleisch und Zwiebeln.
»Beim Heiligen Kreuz!«, rief Tom und biss herzhaft in das noch warme Backwerk. »Deine Mutter ist wahrlich eine gute Frau!« Es schmeckte himmlisch.
Martha setzte sich neben ihren Vater ins Gras. »Und nun hör, was der Mann, der unser Schwein stahl, getan hat«, sagte sie und zog, während sie überlegte, was die Mutter ihr zu berichten aufgetragen hatte, die Nase kraus. Sie war so entzückend, dass es Tom beinahe den Atem verschlug. »Er ist aus der Garküche rausgegangen und hat sich mit einer Frau mit angemaltem Gesicht getroffen und ist in ihr Haus gegangen. Wir haben draußen gewartet.«
Während der Halunke unser Geld verhurt hat, dachte Tom grimmig. »Erzähl weiter!«
»Er ist nicht lange im Haus von der Frau geblieben. Danach ist er in eine Schenke gegangen, und da sitzt er immer noch. Er trinkt nicht viel, aber er würfelt die ganze Zeit.«
»Hoffentlich gewinnt er«, sagte Tom finster. »Ist das alles?«
»Ja, das ist alles.«
»Hast du Hunger?«
»Ich hab’ ein Brötchen gegessen.«
»Hast du Alfred schon Bescheid gesagt?«
»Nein, noch nicht. Ich wollte erst zu dir.«
»Sag ihm, er soll zusehen, dass er irgendwo ein trockenes Plätzchen findet.«
»… ein trockenes Plätzchen findet«, wiederholte Martha. »Soll ich ihm zuerst das sagen, oder soll ich ihm erst erzählen, was der Mann macht, der unser Schwein gestohlen hat?«
»Erzähl ihm erst vom Schweinedieb«, erwiderte Tom. Die Reihenfolge war natürlich vollkommen gleichgültig, aber Martha hatte nach einer klaren Antwort verlangt. Er lächelte ihr zu. »Bist ein kluges Köpfchen, mein Kind. Aber jetzt mach dich auf den Weg.«
»Mir gefällt das Spiel«, sagte sie und winkte ihm zum Abschied zu. Als sie zierlich über den Graben setzte, blitzten ihre nackten Beinchen auf.
Tom sah ihr nach. Die Liebe zu ihr und die Wut auf den Spitzbuben erfüllten sein Herz. Wie hart wir arbeiten mussten, um uns das Schwein leisten zu können, dachte er. Wenn wir unsere Kinder ernähren wollen, brauchen wir das Geld dringend.
Inzwischen war er sogar bereit, den Dieb zu töten, falls es keine andere Möglichkeit gab, das Geld wieder zu beschaffen. Allerdings würde vermutlich auch Faramond Openmouth aufs Ganze gehen. Er war ein Outlaw, stand also außerhalb von Recht und Gesetz. Outlaws schreckten vor keiner Gewalttat zurück. Es war durchaus möglich, dass Faramond Openmouth schon früher einmal einem seiner Opfer wiederbegegnet war. Eines stand jedenfalls fest: Der Mann war brandgefährlich.
Das Tageslicht begann überraschend früh zu schwinden, und Tom fürchtete, den Dieb bei Regen und Dunkelheit nicht mehr erkennen zu können. Je dunkler es wurde, desto weniger Menschen betraten oder verließen die Stadt. Die meisten Auswärtigen hatten
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