Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
entstand um den Wohnturm hektische Betriebsamkeit, und eine Gruppe von Grafen trat heraus. Philip beobachtete, wie sie die steinerne Treppe hinabstiegen und mit einer gewissen Ehrerbietung behandelt wurden. Das mussten Ranulf von Chester und Robert von Gloucester sein, aber Philip kannte sie nicht. Sie näherten sich Stephans Käfig.
»Guten Tag, Vetter Robert«, sagte Stephan mit starker Betonung auf dem Wort Vetter.
Der Größere der beiden erwiderte: »Es war nicht meine Absicht, Euch die Nacht im Stock verbringen zu lassen. Ich befahl, Euch zu verlegen, aber man hat mir nicht gehorcht. Immerhin scheint Ihr es überlebt zu haben.«
Ein Mann in Priesterkleidung löste sich aus der Gruppe und ging auf Philips Käfig zu. Philip beachtete ihn zunächst nicht, da Stephan fragte, was mit ihm geschehen sollte, und er wollte sich die Antwort nicht entgehen lassen. Aber der Priester fragte: »Wer von Euch ist Philip von Kingsbridge?«
»Ich«, antwortete Philip.
Der Priester wandte sich an einen der Bewaffneten, die Philip auf die Burg gebracht hatten. »Lasst diesen Mann frei.«
Philip verstand überhaupt nichts mehr. Diesen Priester hatte er noch nie gesehen. Zweifellos hatte man seinen Namen der zuvor durch den Burgvogt aufgestellten Liste entnommen. Aber wozu? Gewiss, diesen Käfig verließ er nur allzu gerne, doch so recht freuen konnte er sich nicht darüber – wer wusste schon, was ihm noch alles bevorstand!
Der Bewaffnete protestierte: »Aber er ist mein Gefangener!«
»Das war einmal«, erwiderte der Priester. »Lasst ihn frei.«
»Und warum soll ich ihn ohne Lösegeld laufen lassen?«, fragte der Mann kriegerisch.
Der Priester bot ihm nicht weniger entschieden Paroli: »Erstens, weil er weder für den König gekämpft hat noch ein Bürger dieser Stadt ist und Ihr Euch durch seine Gefangennahme eines Verbrechens schuldig gemacht habt. Zweitens, weil er ein Mönch ist, und einem Mann Gottes Gewalt anzutun ist Frevel. Drittens hat Königin Mathildes Sekretär seine Entlassung angeordnet, und wenn Ihr Euch noch lange sträubt, landet Ihr im Handumdrehen selbst in diesem Käfig, also sputet Euch !«
»Schon gut«, brummte der Mann.
Philip war bestürzt. Da hatte er gehofft, Mathilde werde nie von seiner Gefangennahme erfahren – doch nun, da ihr Sekretär ihn zu sich bestellte, zerstoben seine Hoffnungen zu nichts. Als er aus dem Käfig trat, war ihm zumute, als ginge die Welt unter.
»Kommt mit«, sagte der Priester.
Philip folgte ihm. »Soll ich freigelassen werden?«, fragte er.
»Ich denke schon.« Den Priester schien seine Frage zu überraschen. »Wisst Ihr denn nicht, zu wem ich Euch bringe?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
Der Priester lächelte. »Dann will ich ihm die Überraschung nicht verderben.«
Sie überquerten den Burghof und erklommen die lange Treppe, die über den Erdwall zum Tor des Wohnturms führte. Philip zermarterte sich das Gehirn, aber er kam beim besten Willen nicht darauf, welches Interesse Mathildes Sekretär an ihm haben sollte. Der Priester geleitete Philip in eins der Häuser.
Drinnen stand mit dem Rücken zur Tür ein weiterer Priester vor dem Feuer. Er war gebaut wie Philip, klein und schmächtig, und hatte das gleiche schwarze Haar, das allerdings nicht geschoren war und auch keinerlei graue Spuren aufwies. Dieser Rücken war ihm doch vertraut! Philip konnte sein Glück kaum fassen, und ein breites Lächeln erhellte sein Gesicht.
Der Priester drehte sich um. Er hatte die gleichen strahlend blauen Augen wie Philip, und auch er strahlte über das ganze Gesicht. »Philip!«, sagte er mit ausgebreiteten Armen.
»Gelobt sei der Herr!«, sagte Philip erstaunt. »Francis!«
Die beiden Brüder fielen sich um den Hals, und Philip schossen vor Freude die Tränen in die Augen.
+++
Der königliche Audienzsaal in der Burg von Winchester hatte sich sehr verändert. Verschwunden waren nicht nur die Hunde, sondern auch König Stephans einfacher Holzthron, die Bänke und die Tierfelle an den Wänden. Ihren Platz nahmen nun bestickte Wandbehänge, buntfarbige Teppiche, Schalen mit kandierten Früchten und bemalte Stühle ein. Der ganze Raum duftete nach Blumen.
Philip hatte sich am königlichen Hof noch nie wohlgefühlt, aber ein weiblicher Königshof versetzte ihn erst recht in Angst und Schrecken. Kaiserin Mathilde war seine letzte Hoffnung: Von ihr hing es ab, ob er den Steinbruch wiederbekam und den Markt wieder abhalten durfte, doch dieser hochmütigen,
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