Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
jetzt, was ich mit den Reimen meine, oder?«
»Ja, schon, aber mir kommt es auf die Geschichten an«, erwiderte sie. Ihre Augen blitzten vor Vergnügen. »Erzählt weiter.«
Jack hatte das Gefühl, vor Glück ohnmächtig werden zu müssen. »Wenn Ihr wollt«, gab er schwach zurück. Dann sah er ihr in die Augen und begann mit der zweiten Strophe.
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Das erste Spiel der Sonnwendfeier bestand aus dem Verzehr des Wievielbrots. Wie den meisten dieser Spiele haftete auch ihm ein gewisser Aberglaube an, der Philip Kopfzerbrechen bereitete. Wenn er jedoch sämtliche Riten, die an die alten Religionen erinnerten, verbannen wollte, bliebe den Menschen nur noch die Hälfte ihrer Traditionen; außerdem würden sie sich ohnehin über sein Verbot hinwegsetzen. Also drückte er in den meisten Fällen beide Augen zu und schritt nur bei ein oder zwei Exzessen ein.
Die Mönche hatten auf dem Rasen im Westen des Klosterhofs Tische aufgestellt, und das Küchengesinde trug schon die dampfenden Kessel auf. Da der Prior gleichzeitig Gutsherr war, oblag es ihm, an hohen Feiertagen für das Festessen seiner Pächter zu sorgen. Philips Devise lautete: Großzügigkeit beim Essen und Geiz beim Trinken; also gab es Dünnbier und keinen Wein. Trotzdem gelang es an jedem Feiertag fünf oder sechs Unbelehrbaren, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen.
Die angesehensten Bürger von Kingsbridge saßen an Philips Tisch: Tom Builder mit seiner Familie, die älteren Handwerksmeister einschließlich Toms ältestem Sohn Alfred und die Kaufleute, zu denen auch Aliena gehörte, nicht aber der Jude Malachi, der sich erst nach dem Gottesdienst zur Festgemeinde gesellen würde.
Philip bat um Ruhe, sprach das Tischgebet und reichte Tom das Wievielbrot. Im Laufe der Jahre hatte Philip Tom mehr und mehr zu schätzen gelernt: Es gab nicht viele, die offen und ehrlich ihre Meinung sagten und auch zu ihrem Wort standen. Toms Reaktion auf Überraschungen, Krisen und Unglücke bestand darin, dass er die Folgen ruhig abwog, den Schaden einschätzte und Vorkehrungen für die besten Gegenmaßnahmen traf. Philip betrachtete ihn liebevoll. Tom war nicht mehr derselbe Mann, der vor fünf Jahren um Arbeit bettelnd ins Kloster gekommen war. Damals war er erschöpft, abgezehrt und so mager gewesen, dass sich seine Knochen jeden Augenblick durch seine wettergegerbte Haut zu bohren drohten. In der Zwischenzeit war er fülliger geworden, vor allem, nachdem seine Frau zurückgekommen war. Nicht, dass er dick gewesen wäre, aber seine Knochen waren längst nicht mehr zu sehen, ebenso wenig wie der einst verzweifelte Blick. Er trug teure Kleidung, einen Rock aus Lincoln-Tuch, weiche Lederschuhe und einen Gürtel mit Silberschnalle.
Philip musste dem Wievielbrot die erste Frage stellen: »Wie viele Jahre wird es noch dauern, bis die Kathedrale fertig ist?«, wollte er wissen.
Tom biss ein Stück von dem Brot ab. Kleine, harte Körner waren hineingebacken, und als Tom sie in seine Handfläche spuckte, zählten alle am Tisch laut mit. Es war schon vorgekommen, dass jemand bei diesem Spiel den ganzen Mund so voller Körner hatte, dass keiner der Anwesenden weit genug zählen konnte; doch bei all den heute versammelten Händlern und Handwerkern bestand diese Gefahr gewiss nicht. Sie zählten bis dreißig. Philip täuschte Bestürzung vor, und Tom meinte: »So lange werde ich also leben!« Allgemeines Gelächter erhob sich.
Tom reichte das Brot an Ellen weiter. Philip war vor dieser Frau auf der Hut. Sie besaß, ähnlich wie die Kaiserin Mathilde, Macht über Menschen – eine Macht, mit der Philip es nicht aufnehmen konnte. An jenem Tag, als Ellen der Priorei verwiesen worden war, hatte sie etwas Unsägliches verbrochen, etwas so Scheußliches, dass Philip noch immer kaum daran denken mochte. Er hatte geglaubt, sie sei auf Nimmerwiedersehen gegangen, doch zu seinem Entsetzen war sie wieder aufgetaucht, und Tom hatte ihn flehentlich gebeten, ihr zu vergeben. Tom hatte dabei klugerweise ins Feld geführt, dass Philip kein Recht hatte, ihr die Absolution zu verweigern, wenn Gott ihr ihre Sünde vergeben konnte. Philip hegte den Verdacht, dass Ellen nicht sonderlich reumütig war. Aber Tom hatte ihn am nämlichen Tag gefragt, da die freiwilligen Hilfskräfte eingetroffen waren und die Kathedrale gerettet hatten, und ehe Philip sich’s versah, hatte er ihm, wider besseres Wissen, seinen Wunsch gewährt. Die beiden waren in der Gemeindekirche vermählt worden, einem kleinen
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