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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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zu ihrem ansonsten so strengen Lebenswandel.
    Vor der Aufführung fand ein Gottesdienst statt, den der Sakristan kurz und bündig hielt. Danach gab Philip einen ebenso kurzen Bericht über das makellose Leben und die Wundertaten des heiligen Adolphus ab. Dann nahm er im Zuschauerraum Platz und machte es sich in Erwartung der Aufführung bequem.
    Hinter dem linken Wandschirm trat eine Riesengestalt hervor, die auf den ersten Blick in formlose, bunt zusammengewürfelte Kleider gehüllt schien; bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass der Darsteller in mehrere Bahnen schreiend bunter Stoffe gewickelt war, die mit Nadeln zusammengehalten wurden. Sein Gesicht war grell bemalt, und er schleppte einen prall gefüllten Geldsack mit sich herum. Das war der reiche Barbar. Sein Auftritt löste beifälliges Gemurmel aus, das sich, sobald die Zuschauer den Darsteller erkannten, in wogendes Gelächter wandelte: Es war Bruder Bernard, der allseits bekannte und ebenso beliebte wie beleibte Küchenmeister.
    Er stolzierte ein paarmal beifallheischend auf und ab und stürzte sich auf die kleinen Kinder in der ersten Reihe, die vor Angst aufkreischten; dann schlich er sich, beständig auf der Lauer, an den Altar, hinter dem er seinen Geldsack deponierte. Schließlich wandte er sich ans Publikum und sagte laut und deutlich und mit dreister Miene: »Diese dämlichen Christen werden sich nicht an mein Silber herantrauen, denn sie glauben, es steht unter dem Schutz des heiligen Adolphus. Ha!« Damit zog er sich hinter den Wandschirm zurück.
    Auf der anderen Seite tauchte eine mit hölzernen Schwertern und Beilen ausstaffierte Räuberbande auf, deren Gesichter mit Kreide und Ruß beschmiert waren. Zunächst marschierten sie mit grimmigen Mienen im Mittelschiff herum, bis einer von ihnen den Geldsack hinter dem Altar entdeckte. Ein Streit entspann sich: Sollten sie ihn stehlen oder nicht? Der gute Bandit vertrat die Meinung, der Diebstahl würde ihnen zum Verhängnis; der schlechte Bandit meinte, ein toter Heiliger könne ihnen nichts anhaben. Am Ende nahmen sie das Geld und zogen sich in eine Ecke zurück, wo sie es zählten.
    Der Barbar erschien wieder, suchte überall nach seinem Geld und wurde, als er es nirgends finden konnte, fuchsteufelswild. Er trat an den Sarkophag des heiligen Adolphus und verfluchte ihn, da er seinen Schatz nicht gehütet hatte.
    Da erhob sich der Heilige aus seinem Grab.
    Der Barbar schlotterte vor Entsetzen. Der Heilige würdigte ihn jedoch keines Blickes, ging auf die Banditen zu und streckte sie einen nach dem anderen nieder, indem er mit bloßem Finger auf sie deutete. Die Getroffenen mimten Todesqualen, wälzten sich auf dem Boden, verrenkten sich aufs Groteskeste und zogen grässliche Fratzen.
    Der Heilige verschonte nur einen, den guten Banditen, der das Geld wieder hinter dem Altar deponierte. Daraufhin wandte sich der Heilige an das Publikum und verkündete: »Ihr alle, die Ihr Zweifel hegt an der Macht des heiligen Adolphus, hütet Euch!«
    Die Zuschauer kreischten und klatschten, während die Darsteller eine Weile lang im Mittelschiff herumstanden und verlegen grinsten. Der Sinn und Zweck des Spiels lag natürlich in der Moral der Geschichte, aber Philip wusste genau, dass die Zuschauer an den grotesken Szenen, dem Wutanfall des Barbaren und den Todeszuckungen der Banditen den meisten Spaß gehabt hatten.
    Philip erhob sich, sobald der Applaus verstummt war, dankte den Darstellern und verkündete, dass in Kürze die Wettrennen auf der Weide am Flussufer stattfänden.
    An diesem Tag musste der fünfjährige Jonathan die Entdeckung machen, dass er trotz allem doch nicht der schnellste Läufer in Kingsbridge war. Er nahm, angetan mit seiner eigens für ihn angefertigten Mönchskutte, am Kinderrennen teil und löste allgemein Heiterkeit aus, als er sie lupfte und das Rennen vor aller Welt mit blankem Popo lief. Aber er trat gegen ältere Kinder an und erreichte das Ziel als einer der Letzten. Als er sich seiner Niederlage bewusst wurde, wirkte er dermaßen erschrocken und zerknirscht, dass Tom schier vor Mitleid zerfloss und ihn tröstend auf den Arm nahm.
    Zwischen Tom und der Klosterwaise hatte sich mit der Zeit eine ganz besondere Beziehung entwickelt, aber im Dorf war noch niemand auf die Idee gekommen, dahinter ein Geheimnis zu vermuten. Tom verbrachte seine Tage auf dem Klostergelände, wo Jonathan nach Herzenslust herumtollte, und so war es nicht weiter verwunderlich, dass sie sich häufig

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