Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
weitergegraben, doch das Loch war inzwischen schon fast mannstief. »Ja, das genügt«, sagte er und kletterte hinaus.
Inzwischen dämmerte der Morgen herauf. Martha hatte den Säugling aufgenommen. Sie saß am Feuer und wiegte ihn auf den Armen. Tom kniete neben Agnes nieder und wickelte sie fest in ihren Umhang, achtete jedoch darauf, dass das Gesicht frei blieb. Dann hob er sie auf, legte sie neben das Grab, stieg wieder in die Grube und holte sie zu sich. Er bettete sie behutsam auf die Erde und kniete neben ihr in ihrem kalten Grab. Sanft küsste er sie noch einmal auf die Lippen, dann schloss er ihr die Lider.
Er kletterte wieder hinaus. »Kommt her, Kinder«, sagte er.
Alfred und Martha stellten sich neben ihn, und Tom legte seine Arme um sie. Martha hielt den Säugling im Arm. Sie starrten in das Grab. »Sagt jetzt: ›Gott segne unsere Mutter.‹!«, befahl er.
Die Kinder sagten: »Gott segne unsere Mutter.«
Martha schluchzte, und Alfreds Augen waren tränenfeucht. Tom drückte sie an sich und schluckte seine eigenen Tränen.
Als die erste Schaufel Erde ins Grab fiel, schrie Martha auf. Alfred nahm seine Schwester in die Arme, Tom schaufelte weiter. Der Gedanke, Erde auf Agnes’ Gesicht werfen zu müssen, war ihm unerträglich, und so bedeckte er zunächst ihre Füße, dann ihre Beine und ihren Rumpf, und er türmte die Erde so hoch, dass sie bald einen großen Hügel bildete, der sich mit jeder neu hinzukommenden Schaufel verbreiterte. Die Erde rieselte über den Hals, den Mund, den er geküsst hatte, und schließlich war das Gesicht auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Rasch füllte Tom das Grab auf.
Als er fertig war, verstreute er die restliche Erde, sodass sich das Grab nicht mehr von der Umgebung abhob. Den Outlaws hier im Wald war durchaus zuzutrauen, dass sie es in der Hoffnung, einen Ring an der Leiche zu finden, wieder aufscharrten.
Dann stand er neben dem Grab. »Leb wohl, meine Liebe«, flüsterte er. »Du warst eine gute Frau. Ich liebe dich.«
Mit Mühe riss er sich los.
Sein Umhang lag noch immer dort, wo er Agnes entbunden hatte. Die untere Hälfte war getränkt mit geronnenem, trocknendem Blut. Tom nahm sein Messer zur Hand, schnitt den Umhang in der Mitte durch und warf die blutgetränkte Hälfte ins Feuer.
Martha hielt nach wie vor den Säugling im Arm. »Gib ihn mir!«, sagte Tom. Martha sah ihn an, die Augen voller Furcht. Tom wickelte den nackten Säugling in die unbefleckte Hälfte des Umhangs. Das Kind schrie. Zu Alfred und Martha, die ihn mit stumpfen Blicken anglotzten, sagte er: »Wir haben keine Milch, um ihn am Leben zu halten. Er muss hierbleiben, bei seiner Mutter.«
»Aber da stirbt er doch!«, rief Martha.
»Ja«, sagte Tom mit gepresster Stimme. »Er stirbt auf jeden Fall, wie immer wir uns verhalten.« Er wünschte, der Säugling hörte auf zu schreien.
Er sammelte seine Habseligkeiten zusammen, steckte sie in den Kochtopf und schnallte sich den Topf auf den Rücken, ganz so, wie Agnes es immer getan hatte.
»Lasst uns gehen«, sagte er.
Martha fing an zu schluchzen. Alfreds Gesicht war totenbleich. Im grauen Licht eines kalten Morgens brachen sie auf. Das Geschrei des Kindes wurde leiser und leiser, bis es schließlich nicht mehr zu hören war.
Es hätte nichts genützt, noch länger am Grab zu bleiben. Die Kinder hätten kein Auge mehr zugetan, und den Rest der Nacht am Grab zu wachen wäre sinnlos gewesen. Es war gut, dass sie wieder unterwegs waren; es lenkte sie ab.
Tom schlug einen schnellen Schritt an, doch seine Gedanken waren nun frei und ließen sich nicht mehr bändigen. Gehen, gehen … sie konnten nichts anderes tun als gehen. Es gab keinerlei Vorbereitungen zu treffen, keine Arbeit, kein Ziel und nichts zu sehen als einen düsteren Wald und zittrige Schatten im Fackelschein. Immer wieder dachte er an Agnes, an dieses oder jenes gemeinsame Erlebnis, und bei manchen Erinnerungen, die sich einstellten, lächelte er und drehte sich nach ihr um, um ihr zu sagen, woran er gerade gedacht hatte … Da traf ihn dann jedes Mal die Erkenntnis, dass sie gestorben war, wie ein Schlag. Er war vollkommen durcheinander, als sei etwas gänzlich Unbegreifliches geschehen, obwohl es zu den natürlichsten Dingen der Welt gehörte, dass Frauen ihres Alters im Kindbett starben und Ehemänner seines Alters als Witwer zurückließen. Das Gefühl des Verlusts schwärte wie eine offene Wunde. Er hatte einmal gehört, dass Menschen, denen man an einem Fuß die
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