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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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blutete. Die verschrumpelte Nabelschnur, die noch immer aus ihrem Schoß hing, kringelte sich in einer kleinen Blutlache auf Toms Umhang.
    Kurz darauf fragte Martha ihren Vater: »Wartest du noch auf etwas?«
    »Ja«, erwiderte Tom. »Auf die Nachgeburt.«
    »Was ist das?«
    »Du wirst’s schon sehen.«
    Mutter und Kind ruhten eine Weile. Dann schlug Agnes unvermittelt die Augen auf. Ihre Muskeln verkrampften sich, und der Mutterkuchen erschien. Tom nahm ihn auf und betrachtete ihn. Er sah aus wie vom Hackbrett des Schlachters gefallen und war auf einer Seite eingerissen. Man hätte meinen können, dass ein Stück fehlte, doch war Tom sich dessen nicht sicher, schließlich hatte er nie zuvor eine Nachgeburt so genau angesehen. Wahrscheinlich war das immer so – irgendwie musste sie sich ja schließlich vom Körper losgerissen haben.
    Er warf die Nachgeburt ins Feuer. Ein unangenehmer Geruch entströmte ihr, als die Flammen sie erfassten. Sie einfach in den Wald zu werfen war nicht ratsam; sie hätte Füchse oder gar Wölfe anlocken können.
    Agnes blutete immer noch. Dass mit der Nachgeburt stets ein Blutschwall abging, war Tom noch geläufig, nur erinnerte er sich nicht an solche Mengen. Er wusste jetzt, dass die Krise noch nicht überstanden war. Vor Hunger und Erschöpfung schwindelte ihn, doch der Anfall war nur von kurzer Dauer. Er riss sich zusammen.
    »Du blutest noch immer ein bisschen«, sagte er zu Agnes, wobei er sich bemühte, seine Sorge nicht durchklingen zu lassen.
    »Das hört sicher bald auf«, sagte sie. »Deck mich zu.«
    Tom knöpfte ihr das Oberteil der Tunika zu und wickelte ihr den Umhang um die Beine.
    »Kann ich mich jetzt etwas ausruhen?«, fragte Alfred.
    Er kniete noch immer hinter Agnes und stützte sie. Er hat so lange in derselben Stellung verharrt, dass ihm alle Glieder abgestorben sein müssen, dachte Tom und sagte: »Ich löse dich ab.« Für Agnes, die ja den Säugling halten musste, war es bequemer, halb aufgerichtet zu bleiben. Außerdem hielt der Körper des Stützenden ihren Rücken warm und schützte sie vor dem Wind. Tom und Alfred tauschten die Plätze. Alfred streckte ächzend seine jungen Beine. Tom legte die Arme um Agnes und das Kind. »Wie geht es dir?«, fragte er.
    »Ich bin entsetzlich müde.«
    Der Säugling schrie. Agnes legte ihn aufrecht, sodass er ihre Brust finden konnte. Während das Kind zu nuckeln begann, schlief sie ein.
    Tom war beunruhigt. Die Erschöpfung nach einer Geburt war normal, doch Agnes’ ungewöhnliche Teilnahmslosigkeit machte ihm Sorgen. Sie war zu schwach.
    Der Säugling schlief, und nach einer Weile schliefen auch die anderen beiden Kinder ein. Martha kuschelte sich an Agnes, Alfred streckte sich auf der anderen Seite der Feuerstelle aus. Tom hielt Agnes in den Armen und streichelte sie sanft, hin und wieder küsste er ihren Scheitel. Er spürte, wie sich ihr Körper zunehmend entspannte und immer tiefer in Schlaf sank. Wahrscheinlich ist es das Beste für sie, dachte er. Er berührte ihre Wange. Obwohl er alles getan hatte, um sie warmzuhalten, war die Haut kalt und klamm. Er suchte den Säugling unter ihrem Gewand und legte ihm die Hand auf die Brust. Das Kind war warm, sein Herz schlug fest und regelmäßig. Tom lächelte. Ein kräftiges Kind, dachte er. Stark genug zum Überleben.
    Agnes regte sich. »Tom?«
    »Ja?«
    »Erinnerst du dich an die Nacht, als ich zu dir in deine Hütte kam? Damals, als du an der Kirche meines Vaters gearbeitet hast?«
    »O ja, natürlich«, sagte er und tätschelte sie. »Wie könnte ich diese Nacht jemals vergessen?«
    »Ich habe es nie bereut, dass ich deine Frau geworden bin. Nicht ein einziges Mal. Und jedes Mal, wenn ich an diese Nacht zurückdenke, fühle ich mich froh und glücklich.«
    Er lächelte. Es tat ihm gut. »Mir geht es genauso«, sagte er. »Ich bin froh, dass du damals zu mir gekommen bist.«
    Sie schwieg, verloren in ihren Gedanken. Dann sagte sie: »Ich hoffe, du wirst eines Tages deine Kathedrale bauen.«
    Tom war überrascht. »Ich dachte, du wärst dagegen.«
    »War ich auch, aber das war nicht recht. Du verdienst etwas Schönes.«
    Er verstand nicht, was sie damit meinte.
    »Bau eine schöne Kathedrale für mich.«
    Sie wusste nicht, was sie sagte. Tom war froh, als sie wieder einschlief. Diesmal wurde ihr Körper ganz schlaff, und ihr Kopf fiel zur Seite. Hätte Tom ihn nicht festgehalten, wäre der Säugling ihr von der Brust gefallen.
    So lagen sie eine lange Zeit.

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