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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Schließlich fing das Kind wieder an zu schreien, doch Agnes reagierte nicht darauf. Alfred wurde von dem Geschrei geweckt; er drehte sich nach seinem kleinen Bruder um.
    Tom rüttelte Agnes vorsichtig. »Wach auf!«, sagte er. »Der Kleine hat Hunger.«
    »Vater!«, rief Alfred mit erstickter Stimme. »Ihr Gesicht!«
    Eine böse Vorahnung beschlich Tom. Sie hatte zu stark geblutet. »Agnes!«, wiederholte er. »Wach auf!« Sie rührte sich nicht. Sie musste das Bewusstsein verloren haben. Tom erhob sich und ließ ihren Oberkörper sanft zu Boden gleiten, bis sie flach auf dem Rücken lag. Ihr Gesicht war gespenstisch bleich.
    Mit dem Schlimmsten rechnend, wickelte Tom den um ihre Hüften geschlungenen Umhang auf.
    Überall war Blut.
    Alfred hielt den Atem an und wandte sich ab.
    »Lieber Herr Jesus, steh uns bei!«, flüsterte Tom.
    Das Geschrei des Säuglings hatte inzwischen auch Martha geweckt. Sie sah das Blut und fing an zu kreischen. Tom packte sie und schlug ihr ins Gesicht. Sie war sofort still. »Kein Geschrei!«, befahl er ruhig und gab sie wieder frei.
    Alfred fragte: »Stirbt Mutter?«
    Tom legte Agnes die Hand auf die Haut unterhalb ihrer linken Brust. Er spürte nichts.
    Das Herz hatte aufgehört zu schlagen.
    Tom verstärkte den Druck seiner Hand. Agnes’ Haut war warm, und er spürte die Schwere ihrer Brust. Aber sie atmete nicht mehr, und das Herz stand still.
    Wie Nebel senkte sich eine dumpfe Kälte um Tom. Agnes war von ihm gegangen. Er starrte in ihr Gesicht. Wie war es möglich, dass sie nicht mehr bei ihnen war? Er wollte, dass sie sich bewegte, die Augen aufschlug, ein- und ausatmete. Er ließ seine Hand auf ihrer Brust liegen. Es hieß, dass stillstehende Herzen mitunter wieder zu schlagen begannen … Aber sie hatte so viel Blut verloren.
    Er sah Alfred an. »Mutter ist tot«, flüsterte er.
    Alfred starrte ihn begriffsstutzig an, Martha fing an zu weinen. Auch der Säugling wimmerte. Ich muss mich um die Kinder kümmern, dachte Tom. Ich darf jetzt keine Schwäche zeigen.
    Insgeheim jedoch empfand er ein fast unstillbares Bedürfnis danach zu weinen. Er wollte die Tote umarmen, bis der Körper kalt und steif war. Er wollte an das junge Mädchen Agnes denken, an die lachende Frau, an die Frau, die er leidenschaftlich geliebt hatte. Er wollte seine Wut aus sich herausschluchzen und die Fäuste recken gegen den unbarmherzigen Himmel. Aber er versagte es sich und wappnete sein Herz. Er durfte jetzt unter keinen Umständen den Kopf verlieren, sondern musste Stärke zeigen – der Kinder wegen.
    Keine Träne trat ihm in die Augen.
    Was ist jetzt zu tun, fragte er sich.
    Wir müssen ein Grab schaufeln.
    Ich muss ein tiefes Loch graben und Agnes hineinlegen, damit sie von den Wölfen verschont bleibt und ihre Gebeine am Tag des Jüngsten Gerichtes wiederauferstehen können. Am Grab muss ich für ihre Seele beten. O Agnes, warum hast du mich verlassen?
    Der Säugling schrie unentwegt. Seine Augen waren fest geschlossen, der Mund öffnete und schloss sich regelmäßig, als schöpfe er Kraft aus der Luft. Er brauchte unbedingt Nahrung. Agnes’ Brüste waren voller warmer Milch. Warum nicht, dachte Tom und bettete das Kind so, dass es eine Brustwarze erreichen konnte. Es begann sofort zu saugen.
    Martha sah mit großen Augen zu und lutschte dabei am Daumen.
    »Halt das Kind fest, sodass es nicht herunterfällt!«, trug Tom ihr auf.
    Sie nickte und kniete neben der Toten und dem Kind nieder.
    Tom holte den Spaten. Agnes hatte den Ruheplatz unter der großen Rosskastanie selbst ausgewählt. Wohlan – so sollte er auch zu ihrer letzten Ruhestätte werden. Er schluckte und überwand den schier unwiderstehlichen Drang, sich einfach auf den Boden zu setzen und zu weinen. Einige Schritte vom Stammgrund entfernt – weit genug, um das Wurzelwerk nicht zu verletzen – kratzte er ein Rechteck in die Erde. Dann fing er an zu graben.
    Die Arbeit tat ihm gut. Indem er all seinen Willen und all seine Konzentration darauf verwandte, den Spaten ins frostharte Erdreich zu treiben, gelang es ihm, alle anderen Gedanken zu vergessen und neue innere Kraft zu schöpfen. Ab und zu ließ er sich von Alfred ablösen, dem die eintönige körperliche Arbeit ebenfalls einen gewissen Trost verschaffte. Sie gruben, so schnell sie konnten, und gerieten bald trotz der bitteren Kälte ins Schwitzen.
    Irgendwann fragte Alfred: »Meinst du nicht, es ist groß genug?«
    Tom nickte widerstrebend. Am liebsten hätte er

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