Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
düsteren Schatten auf alles, und Aliena spürte sehr wohl die tiefsitzende Angst unter dem oberflächlichen Wohlergehen. Den meisten gelang das Verstellspiel besser als ihr, aber in Wirklichkeit fühlten sie sich genauso: dass es nicht so bleiben konnte und dass alles, was sie aufbauten, wieder vernichtet würde.
Während sie noch ausdruckslos auf die Unmenge an Broten starrte, traf ihr Bruder Richard ein. Er führte sein Pferd aus der menschenleeren Stadt hinaus und über die Brücke. Er hatte Kingsbridge schon einige Zeit vor dem Massaker verlassen und für König Stephan gekämpft, nun traute er kaum seinen Augen. »Was zum Teufel ist denn hier passiert?«, sagte er zu seiner Schwester. »Ich kann unser Haus nicht mehr finden – die ganze Stadt hat sich verändert!«
»William Hamleigh ist während des Wollmarktes mit seinen Kriegern hier eingefallen und hat die Stadt niedergebrannt«, sagte Aliena.
Richard wurde vor Schreck weiß wie die Wand, und die Narbe an seinem rechten Ohr trat deutlich hervor. »William!«, stieß er hervor. »Dieser Teufel!«
»Wir haben wieder ein neues Haus«, fuhr Aliena ausdruckslos fort. »Alfreds Leute haben es für mich gebaut. Aber es ist viel kleiner und liegt unten am neuen Kai.«
»Und du? Was ist mit dir?«, fragte er und starrte sie an. »Du bist so gut wie kahl, und Augenbrauen hast du auch keine mehr.«
»Mein Haar hat Feuer gefangen.«
»Er hat doch nicht …«
Aliena schüttelte den Kopf. »Diesmal nicht.«
Eins der Mädchen reichte Richard ein Stück Salzbrot zum Probieren. Er nahm es entgegen, ohne jedoch einen Bissen anzurühren. Er wirkte vollkommen überwältigt.
»Trotzdem, ich bin froh, dass du gesund und munter bist«, sagte Aliena.
Er nickte. »Stephan marschiert auf Oxford zu, wo Mathilde sich verschanzt hat. Vielleicht ist der Krieg bald vorüber. Aber ich brauche ein neues Schwert – ich bin gekommen, um Geld zu holen.« Er biss nun doch von seinem Brot ab und bekam auch wieder ein wenig Farbe. »Herrje, wie gut das schmeckt. Später kannst du mir ein Stück Fleisch braten.«
Plötzlich hatte sie Angst vor ihm. Sie wusste, dass er hart mit ihr ins Gericht gehen würde, und sie fühlte sich zu schwach, ihm Paroli zu bieten. »Ich habe kein Fleisch«, sagte sie.
»Na, dann geh halt zum Metzger, und hol welches!«
»Sei mir bitte nicht böse, Richard«, sagte sie und fing an zu zittern.
»Ich bin dir nicht böse«, erwiderte er unwirsch. »Was ist denn nur los mit dir?«
»Meine gesamte Wolle ist bei dem Brand vernichtet worden«, sagte sie und starrte ihn ängstlich an, als rechne sie mit einem Wutausbruch.
Er runzelte die Stirn, blickte sie an, schluckte hart und warf die Kruste seines Brotes fort. »Die ganze Wolle?«
»Die ganze Wolle.«
»Aber ein bisschen Geld wirst du doch noch haben.«
»Keinen roten Heller.«
»Wieso? Du hattest doch immer eine große Truhe mit Silberpennys unter dem Fußboden vergraben –«
»Aber nicht im Mai. Ich habe es für Wolle ausgegeben – bis zum letzten Penny. Und außerdem habe ich mir vierzig Pfund von Malachi geliehen, die ich nicht zurückzahlen kann. Und ein Schwert kann ich dir ganz bestimmt nicht kaufen, ja, nicht einmal für ein Stück Fleisch zum Abendessen reicht es. Wir sind vollkommen mittellos.«
»Und wie soll ich dann weitermachen?«, rief er wütend aus. Sein Pferd legte die Ohren an und scheute.
»Das weiß ich auch nicht!«, gab Aliena weinerlich zurück. »Und schrei nicht so, du erschreckst nur das Pferd.« Sie brach in Tränen aus.
»William Hamleigh ist an allem schuld«, stieß Richard hervor. »Eines Tages werde ich ihn abstechen wie ein fettes Schwein, das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist!«
Alfred kam auf sie zu. Sein buschiger Bart war voller Brotkrümel, und in der Hand hielt er einen Kanten Pflaumenbrot. »Probiert dies hier«, sagte er zu Richard.
»Ich habe keinen Hunger«, erwiderte Richard kurz angebunden.
Alfred sah Aliena an und fragte: »Was ist denn los?«
Richard antwortete an Alienas Statt: »Sie hat mir soeben mitgeteilt, dass wir keinen roten Heller mehr besitzen.«
Alfred nickte. »Alle haben etwas verloren, aber Aliena hat alles verloren.«
»Ihr begreift natürlich, was das für mich bedeutet«, sagte Richard. Er richtete die Worte an Alfred, sah dabei aber seine Schwester vorwurfsvoll an. »Ich bin am Ende. Wenn ich die Waffen nicht ersetzen, meine Männer nicht bezahlen und keine Pferde kaufen kann, dann kann ich auch nicht für
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