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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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war, als setze sein Herz aus. Er ging schneller und kniff die Augen zusammen. Ja, es war ein Feuer. Er fing an zu laufen. Er hörte Martha hinter sich aufschreien, als fürchte sie, er wolle sie im Stich lassen. »Wir sind da!«, rief er über die Schulter zurück. Die Kinder rannten hinter ihm her.
    Keuchend erreichte er den Kastanienbaum. Das Feuer brannte munter vor sich hin. Da war der Stapel mit dem aufgeschichteten Holz, dort der dunkle Fleck, auf dem Agnes verblutet war. Und da war auch das Grab; es sah aus wie ein flaches, unbepflanztes Beet. Und auf dem Grab war – nichts.
    Tom sah sich um. Er war vollkommen außer sich. Keine Spur von dem Säugling – nirgends. Seine Augen füllten sich mit Tränen der Verzweiflung. Selbst der halbe Umhang, in den er das Kind noch gewickelt hatte, war verschwunden … und dabei war das Grab gänzlich unberührt. Es gab keine Tierfährten auf dem weichen Boden, kein Blut, keine Schleifspuren …
    Tom hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr richtig zu sehen. Auch sein Verstand schien ihn im Stich zu lassen. Er wusste jetzt, dass er den Säugling unter keinen Umständen hätte aussetzen dürfen. Erst wenn er die Gewissheit hätte, dass das Kind tot war, würde er Ruhe finden. Doch so, wie es aussah, ließ sich nicht ausschließen, dass das Kind noch lebte – irgendwo in der Nähe. Er beschloss, die Umgebung abzusuchen.
    »Wo gehst du hin?«, fragte Alfred.
    »Wir müssen das Kind suchen«, sagte Tom, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er schritt die kleine Lichtung ab, spähte ins Gebüsch. Noch immer fühlte er sich schwach und schwindelig. Er fand nichts, nicht den geringsten Hinweis auf die Richtung, in welcher der Wolf mit dem Neugeborenen verschwunden war. Es musste ein Wolf gewesen sein, er war jetzt ganz sicher. Und das Lager der Bestie war vermutlich nicht allzu weit entfernt.
    »Wir müssen den Kreis erweitern«, sagte er zu den Kindern.
    Er ging voran, und sie folgten ihm. Von Mal zu Mal wurde der Kreis um das Feuer größer. Tom ließ sich weder vom Unterholz noch vom dichten Buschwerk aufhalten. Obwohl er spürte, dass sein Geist sich zunehmend verwirrte, gelang es ihm, das einzig entscheidende Gebot der Stunde im Gedächtnis zu behalten: Er musste den Säugling finden. Trauer war ihm in diesen Augenblicken fremd; er empfand vielmehr eine wilde, wütende Entschlossenheit, genährt durch die furchtbare Erkenntnis der eigenen Schuld. Und so stolperte er durch den Wald, spähte verbissen in alle Richtungen und blieb alle paar Schritte stehen, um zu lauschen, ob irgendwo das unverkennbare Wimmern eines Neugeborenen zu hören war. Aber wann immer er und die Kinder innehielten und lauschten – sie hörten nichts als das Schweigen des Waldes.
    Er wusste nicht mehr, wie viel Zeit seit Beginn ihrer Suche verstrichen war. Da sie im Kreis gingen, überquerten sie immer wieder den Weg, doch die Zeitspannen dazwischen wurden immer länger, und irgendwann verstärkte sich der Verdacht, dass sie ihn überhaupt nicht mehr erreichten. Tom fragte sich, wieso sie noch nicht an der Kate des Jagdaufsehers vorbeigekommen waren, und es keimte der Gedanke in ihm auf, dass sie vielleicht gar nicht mehr das Grab umkreisten, sondern sich längst verlaufen hatten und ziellos im Wald hin und her irrten. Im Grunde war es ihm gleichgültig – wichtig war lediglich, dass sie die Suche fortsetzten.
    »Vater«, sagte Alfred.
    Tom sah ihn ungnädig an; er wollte sich durch nichts und niemanden bei seiner Suche stören lassen. Alfred trug Martha, die anscheinend fest eingeschlafen war, auf dem Rücken. »Was gibt’s?«, fragte Tom.
    »Können wir eine Pause machen?«
    Tom zögerte. Er wollte keine Rast einlegen, aber Alfred sah aus, als sei er am Rande der Erschöpfung. »Gut«, antwortete er widerstrebend. »Aber nur eine ganz kurze.«
    Sie befanden sich gerade an einem Hang, an dessen Fuß möglicherweise ein Bach floss. Tom hatte Durst. Er übernahm Martha und trug sie auf den Armen den Hang hinunter. Tatsächlich fand sich im Tal ein kleiner, klarer Bach mit eisumsäumten Ufern. Er legte Martha auf der Böschung ab, ohne dass sie aufwachte. Dann knieten Tom und Alfred nieder und schöpften mit den Händen das kalte Wasser.
    Alfred legte sich neben Martha und schloss die Augen, während Tom sich umsah. Sie standen auf einer kleinen Lichtung, die ein Teppich aus abgefallenen Blättern bedeckte. Der Wald rundum bestand aus niedrigen, stämmigen Eichen, deren kahle Kronen sich zu einem

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