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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Zehen abgeschnitten hatte, ständig hinfielen und das Gehen unter großen Mühen neu erlernen mussten. So ähnlich erging es ihm jetzt auch; es war, als hätte man ihm einen Teil seines Körpers amputiert, und er hatte sich mit der Endgültigkeit des Verlusts noch nicht abgefunden. Er versuchte, nicht mehr an Agnes zu denken, doch ließ sich die Erinnerung nicht abschütteln. Er sah sie vor sich, wie sie kurz vor ihrem Tod ausgesehen hatte … Es war schier unglaublich, dass sie vor wenigen Stunden noch gelebt hatte und nun unwiederbringlich von ihm gegangen war. Er sah ihr vom Geburtsschmerz verzerrtes Gesicht und das stolze Lächeln, als es vorüber war und sie den neugeborenen Sohn in den Armen hielt. Er hörte ihre Worte danach: Ich hoffe, du wirst eines Tages deine Kathedrale bauen. Und: Bau eine schöne Kathedrale für mich. Es waren die Worte einer Frau gewesen, die wusste, dass sie im Sterben lag.
    Je weiter sie gingen, desto öfter musste Tom an den zurückgelassenen Säugling denken. In einen halben Mantel gehüllt, lag er auf dem frischen Grab. Wahrscheinlich lebte er noch, es sei denn, ein Fuchs hatte bereits seine Witterung aufgenommen. Auf jeden Fall würde er sterben, noch bevor es richtig Tag geworden war. Er würde noch ein wenig schreien und dann seine Augen schließen. Im Schlaf würde er erkalten und sein junges Leben aushauchen.
    Es sei denn, ein Fuchs hätte ihn bereits gewittert …
    Es gab nichts, was Tom für den Säugling hätte tun können. Um zu überleben, brauchte das Kind Milch, und Milch gab es keine. Es gab kein Dorf, wo man eine Amme hätte finden können, es gab weder ein Schaf noch eine Ziege oder eine Kuh. Alles, was Tom seinem jüngsten Sohn hätte geben können, waren Rüben, und die hätten das Kind mit ebenso großer Sicherheit umgebracht wie der Fuchs.
    Weiter und weiter gingen sie, und immer mehr peinigte Tom der Gedanke an das ausgesetzte Kind. Es geschah oft genug, gewiss: Vor allem unter Bauern mit kleinen Höfen und großen Familien war Kindesaussetzung gang und gäbe, und manchmal sah sogar der Priester darüber hinweg. Aber ich gehöre nicht zu diesen Leuten, dachte Tom. Es wäre meine Pflicht gewesen, das Kind bis zu seinem Tode in den Armen zu halten und es dann zu begraben. Nicht, dass es einen Sinn gehabt hätte – aber nur so und nicht anders hätte sich ein rechtschaffener Mann verhalten müssen.
    Inzwischen war es Tag geworden.
    Tom blieb unvermittelt stehen.
    Auch die Kinder gingen nicht weiter. Sie starrten ihn an und warteten, zu allem bereit, auf alles gefasst.
    »Ich hätte das Kind nicht aussetzen dürfen«, sagte Tom.
    »Aber wir können es nicht ernähren«, erwiderte Alfred. »Es muss ja doch sterben.«
    »Trotzdem hätte ich es nicht aussetzen dürfen.«
    »Lasst uns zurückgehen«, sagte Martha.
    Tom zögerte noch. Es wäre ein Eingeständnis seiner Schuld. Aber es stimmte ja. Er hatte gesündigt.
    Er drehte sich um. »Gut«, sagte er. »Gehen wir zurück.«
    Alle Gefahren, die er zuvor als Hirngespinste hatte abtun wollen, waren auf einmal wieder greifbare, unmittelbare Drohungen. Gewiss hatte der Fuchs – oder sogar ein Wolf – den Säugling längst gewittert und ihn fortgeschleppt in sein Lager. Auch die Wildschweine waren gefährlich, obwohl sie keine Fleischfresser waren. Und die Eulen? Zwar waren Eulen kaum imstande, einen Säugling fortzutragen, aber sie konnten ihm gewiss die Augen aushacken …
    Tom ging schneller. Er fühlte sich benommen vor Hunger und Erschöpfung. Martha musste rennen, um mit ihm Schritt zu halten, aber sie beklagte sich nicht.
    Er fürchtete sich vor dem, was ihn am Grab seiner Frau erwartete. Raubtiere waren gnadenlos – und sie merkten es sofort, wenn ein Lebewesen wehrlos war.
    Er wusste nicht mehr, wie lange sie schon unterwegs waren, denn er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Der Wald rechts und links des Weges kam ihm völlig unbekannt vor, obwohl sie von dorther kamen. Schon hielt er angestrengt Ausschau nach dem Grab. Das Feuer musste eigentlich noch brennen … Sie hatten die Reiser so hoch geschichtet. Tom suchte nach der großen Rosskastanie, nach ihren unverwechselbaren Blättern im abgefallenen Laub. Der Weg machte eine Biegung, an die er sich nicht erinnern konnte, und Tom fragte sich in seiner Verwirrung bereits, ob sie nicht doch schon an Agnes’ Grab vorübergegangen waren, ohne es zu erkennen. Dann plötzlich glaubte er weit vor sich einen schwachen orangefarbenen Schimmer zu sehen.
    Ihm

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