Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
entgangen war. Zwar war die Einwohnerzahl der Stadt im vergangenen Jahr spürbar zurückgegangen, doch war sie immer noch so groß, dass er sich nicht jede Geburt merken konnte.
Urplötzlich hörte das Weinen auf. Die Männer hielten sofort inne und lauschten angestrengt, doch es kam kein Laut mehr. Mit finsterer Entschlossenheit setzten sie ihre gefährliche Arbeit fort. Jeder Stein, den sie entfernten, konnte andere ins Rutschen bringen. Im Wissen um dieses Risiko hatte der Prior die Leitung der Aufräumarbeiten Alfred übertragen, der es nun aber zu Philips Leidwesen ganz an der gebotenen Vorsicht fehlen ließ: Er schien jeden tun zu lassen, was ihm gerade passte. Ohne Plan und Ziel wurden die Steine vom Haufen gegriffen und fortgetragen. Als schließlich eine wahre Steinlawine ins Rollen zu kommen drohte, schritt Philip ein.
»Halt!«
Alfred, so viel war klar, stand noch viel zu sehr unter dem Eindruck der Katastrophe. Er war noch nicht wieder in der Lage, andere Leute vernünftig anzuleiten. Philip musste selber in die Bresche springen. »Es kann sein, dass unter diesem Haufen noch Überlebende liegen«, sagte er. »Falls dem so ist, so muss sie irgendetwas vor den herabfallenden Steinen bewahrt haben. Wenn wir nicht aufpassen, gehen sie ihres Schutzes verlustig und werden durch unsere unbedachten Befreiungsversuche getötet. Geht also mit äußerster Behutsamkeit ans Werk!« Er deutete auf eine Gruppe von Steinmetzen, die müßig beieinanderstanden. »Ihr drei da, klettert vorsichtig auf den Haufen, und hebt die obersten Steine herunter. Tragt sie aber nicht selber fort, sondern reicht sie Stück um Stück an andere Helfer weiter. Wir bringen sie dann von hier unten aus fort.«
Die Rettungsarbeiten wurden nach Philips Vorstellungen fortgeführt. Auf einmal ging alles schneller – und die Gefahr einer Rutschung schien gebannt.
Da das Kind nicht mehr schrie, ließ sich die Stelle, die freigelegt werden musste, nicht mehr genau ausmachen. Sie trugen den Trümmerhaufen daher auf der ganzen Breite des Bogens ab. Da auch das Dach des Seitenschiffs teilweise eingefallen war, galt es nicht nur Steine und Mörtel beiseitezuräumen, sondern auch geborstene Balken und Dachplatten.
Philip schuftete unermüdlich: Er wünschte nichts sehnlicher, als dass das Kleine am Leben blieb. Er wusste, dass der Einsturz der Kirche Dutzende von Menschenleben gefordert hatte – dennoch schien ihm dieser unbekannte Säugling Vorrang vor allem anderen zu haben. Wenn dieses Kind gerettet wird, so empfand er, besteht noch eine gewisse Hoffnung auf die Zukunft. Und während er Stein um Stein abhob, hustend und beinahe blind vor Staub, sandte er in Gedanken inbrünstige Gebete gen Himmel, in denen er um das Leben des Kindes flehte.
Nach einiger Zeit war der Schuttberg so weit abgetragen, dass man die Außenmauern des Seitenschiffs und sogar den Teil eines tief liegenden Fensters erkennen konnte. Tatsächlich hatte sich unter den Trümmern eine Art Hohlraum gebildet. Ob jemand darin überlebt hatte? Schon kroch ein Maurer vorsichtig in das freigelegte Loch … und schon hörte man seinen Ruf: »Jesusmaria!«
Diesmal störte sich Philip nicht an der Blasphemie. »Was ist los?«, fragte er. »Ist das Kind wohlauf?«
»Kann ich nicht genau sagen«, antwortete der Maurer und forderte seine Mithelfer im nächsten Atemzug auf, so schnell wie möglich weitere Steine abzutragen. Philip blieb nichts anderes übrig, als, beflügelt vom Fieber der Neugier, wieder zuzupacken.
Die Arbeit ging jetzt rascher voran. Sie hatten schon fast den Boden der Kathedrale erreicht, als ein riesiger Stein die Kräfte dreier gestandener Männer forderte. Er war noch nicht ganz fortgewuchtet, als Philip das Kind erblickte.
Es war nackt, und es war gerade erst geboren. Die weiße Haut war verschmiert mit Blut und Trümmerstaub, doch das karottenrote Haar war unverkennbar. Aus seinem kleinen runden Bäuchlein hing eine runzelige Nabelschnur, und ein näherer Blick verriet, dass es sich um einen Jungen handelte. Er lag am Busen einer Frau und saugte an einer ihrer Brüste. Das Kind lebte! Philips Herz schlug vor Freude höher. Er sah die Frau an – auch sie war am Leben. Sie blickte ihm in die Augen und verzog die Lippen zu einem schwachen Lächeln, aus dem das reinste Glück sprach.
Es war Aliena.
Aliena kehrte gar nicht erst in Alfreds Haus zurück.
Er erzählte überall herum, dass das Kind nicht von ihm war, und verwies zum Beweis auf den
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