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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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hatte sich verrechnet; Jack hingegen war ganz sicher, dass ihm so etwas nicht unterlaufen war. Es musste einen anderen, bisher unbekannten Grund für die Risse geben.
    Gefahr bestand keine, jedenfalls vorläufig noch nicht. Die Risse waren mit Mörtel ausgefüllt worden und seither nicht wieder aufgetaucht. Das Gebäude war also sicher. Aber es war auch schwach – und diese Schwäche nahm Jack alle Freude. Sein Ehrgeiz war es, eine Kirche zu bauen, die bis zum Tag des Jüngsten Gerichts erhalten blieb.
    Er wandte sich ab und stieg die Wendeltreppe hinab zur Galerie, wo er sich dort, wo das Licht aus den Fenstern über dem Nordportal einfiel, einen Zeichenboden eingerichtet hatte. Er wollte die Plinthe für einen Strebepfeiler entwerfen. Zunächst zeichnete er eine Raute, dann in die Raute ein Quadrat und schließlich in das Quadrat einen Kreis. Die Hauptschäfte des Pfeilers sollten den vier Eckpunkten der Raute entspringen und sich an der Spitze der Säule nach Norden, Süden, Westen und Osten zu Jochbögen oder Gewölberippen verzweigen. Die Stützschächte sollten sich über den vier Ecken des Quadrats erheben und schließlich als Gewölberippen auslaufen, die auf der einen Seite das Mittelschiff-, auf der anderen Seite das Seitenschiffgewölbe diagonal durchliefen. Der Kreis in der Mitte stand für das Herzstück des Pfeilers.
    Jacks Entwürfe beruhten sämtlich auf einfachen geometrischen Figuren und einigen nicht ganz so einfachen Proportionsberechnungen, wie zum Beispiel dem Verhältnis zwischen der Quadratwurzel aus der Zahl zwei zu der Wurzel aus der Zahl drei. Jack hatte das Wurzelziehen in Toledo gelernt. Die meisten Baumeister beherrschten es nicht und begnügten sich daher mit einfachen geometrischen Konstruktionen. Sie wussten, dass der Durchmesser eines Kreises, der um ein Quadrat gezogen wird, größer ist als eine Seite des Quadrats, und zwar im Verhältnis von der Wurzel aus zwei zu eins. Dieses Verhältnis – Wurzel aus zwei zu eins – war die älteste Berechnungsformel der Maurer, die bei einfachen Gebäuden das Verhältnis zwischen Außenbreite und Innenbreite und damit die Dicke der Mauern bestimmte.
    Jacks Aufgabe wurde zusätzlich erschwert durch die religiöse Bedeutung verschiedener Ziffern. Prior Philip hatte die Absicht, die neue Kirche wieder der Jungfrau Maria zu weihen, weil die Weinende Madonna mehr Wunder wirkte als die Gebeine des heiligen Adolphus. Das Kloster hatte daher den Wunsch geäußert, Jack möge die Zahlen neun und sieben verwenden, die als die Zahlen der Jungfrau Maria galten. So hatte der Baumeister für das Langhaus neun Jochbögen geplant und für den neuen Chorraum, der erst ganz zum Schluss erstellt werden sollte, sieben. Die ineinandergreifenden Blendarkaden in den Seitenschiffen sollten sieben Bögen je Gewölbeabschnitt bekommen und die Westfassade neun Lanzettfenster. Jack hielt es nicht für nötig, sich über die theologische Bedeutung von Zahlen eine eigene Meinung zu bilden, doch ahnte er bereits, dass ihre regelmäßige Verwendung den harmonischen Gesamteindruck des fertigen Baus nur noch verstärken konnte.
    Er hatte die Zeichnung des Pfeilersockels noch nicht beendet, als er vom Dachdeckermeister unterbrochen wurde, der seine Hilfe brauchte. Er ging die Wendeltreppe hinauf und folgte dem Mann durch den Lichtgaden in den Dachstuhl. Sie passierten die runden Kuppeln an der Oberseite des Kreuzrippengewölbes. Über ihnen entrollten die Dachdecker große Bleimatten und nagelten sie an den Sparren fest. Sie arbeiteten von unten nach oben, sodass die obere Schicht jeweils die darunterliegende überlappte; auf diese Weise konnte das Regenwasser nicht in den Dachstuhl eindringen.
    Jack erkannte das Problem auf den ersten Blick. Er hatte eine ornamentierte Fiale in die Senke zwischen zwei Dachschrägen gesetzt, Entwurf und Ausführung jedoch einem Steinmetzmeister überlassen. Der Mann hatte nun weder in der Fiale noch neben ihr für einen Regenwasserablauf gesorgt. Es war daher an ihm, Abhilfe zu schaffen. Der Dachdeckermeister erhielt den Auftrag, dem Steinmetzen dies zu sagen. Dann kehrte Jack wieder auf seinen Zeichenboden zurück.
    Zu seiner Verblüffung stand dort Alfred und wartete auf ihn.
    Sie hatten seit zehn Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt, obwohl Jack ihn ab und zu in Shiring oder Winchester von Weitem gesehen hatte. Aliena, die nach dem Gesetz der Kirche noch immer mit ihm verheiratet war, hatte ihn seit neun Jahren nicht mehr zu

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