Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Gesicht bekommen. Martha besuchte ihren Bruder gelegentlich in seinem Haus in Shiring und kehrte stets mit dem gleichen Bericht heim: Es gehe ihm glänzend, er baue Häuser für die Bürger von Shiring, er lebe allein und sei auch sonst ganz der Alte geblieben …
Der Alfred, der Jack nun gegenüberstand, entsprach dieser Beschreibung kaum noch. Er wirkte erschöpft und niedergeschlagen. Der große, bullige Alfred war abgemagert; seine Wangen waren eingefallen, und die einst so fleischige Hand schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen.
»Hallo, Jack«, sagte er.
Seine Miene war angriffslustig wie eh und je, der Tonfall seiner Stimme jedoch eher vertraulich, fast kriecherisch.
»Hallo, Alfred«, gab Jack vorsichtig zurück. »Das letzte Mal, als ich dich sah, trugst du eine seidene Tunika und warst drauf und dran, fett zu werden.«
»Das war vor drei Jahren – noch vor der ersten schlechten Ernte.«
»Richtig.« Drei magere Ernten hintereinander hatten zu einer Hungersnot geführt. Leibeigene waren verhungert, viele Pächter völlig verarmt, und vermutlich konnte sich auch in Shiring kaum jemand mehr ein prächtiges neues Steinhaus leisten. Das bekam Alfred offenbar schmerzlich zu spüren. »Was führt dich nach so langer Zeit wieder nach Kingsbridge?«, fragte Jack.
»Ich habe von deinen Querschiffen gehört und will sie mir mal ansehen.« Eine eher zähneknirschende Bewunderung schwang in seinen Worten mit. »Wo hast du das gelernt?«
»In Paris«, gab Jack kurz angebunden zurück. Alfred, dem er immerhin sein Exil zu verdanken hatte, war der Letzte, mit dem er über diesen Abschnitt seines Lebens zu reden gedachte.
»Ich würde ganz gern hier ein bisschen arbeiten«, sagte Alfred. »Dümmer werd ich davon bestimmt nicht.«
Jack blieb die Spucke weg. Ausgerechnet Alfred bittet mich um Arbeit. Um Zeit zu gewinnen, fragte er: »Was ist mit deinem Trupp?«
»Ich bin jetzt allein«, antwortete Alfred, immer noch um einen beiläufigen Ton bemüht. »Für einen ganzen Trupp reicht die Arbeit nicht mehr.«
»Wir stellen derzeit ohnehin niemanden ein«, sagte Jack im gleichen Tonfall. »Unsere Mannschaft ist vollzählig.«
»Aber einen tüchtigen Maurer kann man doch gebrauchen, oder?«
Jack erkannte den flehenden Unterton, und ihm wurde klar, dass Alfred der Verzweiflung nahe war. Er entschied sich für eine aufrichtige Antwort. »Nach allem, was wir miteinander erlebt haben, bin ich der Letzte, den du um Hilfe bitten solltest, Alfred.«
»Du bist der Letzte«, gab Alfred ohne Umschweife zu. »Ich hab’s schon überall versucht. Nirgendwo werden noch Leute angeheuert. Es liegt an der Hungersnot.«
Jack dachte an all die vielen Male, da Alfred ihn misshandelt, geschlagen und gequält hatte. Es war Alfred, der ihn ins Kloster getrieben, und Alfred, der ihn in die Fremde getrieben hatte. Nein, er hatte keinen Grund, Alfred zu helfen, im Gegenteil: Er hätte allen Grund, sich an seinem Unglück zu weiden. »Ich würde dich nicht einmal dann nehmen, wenn ich dringend Leute brauchte«, sagte er.
»Vielleicht doch«, gab Alfred mit der Sturheit eines Ochsen zurück. »Es war immerhin mein Vater, der dich das alles gelehrt hat, ohne ihn wärst du heute kein Dombaumeister. Willst du mir also nicht um seinetwillen helfen?«
Um Toms willen. Jack verspürte plötzlich Gewissensbisse. Tom hatte – auf seine Weise – versucht, ihm ein guter Stiefvater zu sein. Er war weder zärtlich noch besonders einfühlsam gewesen, doch er hatte seine eigenen Kinder nicht anders behandelt. Mit viel Geduld und Großzügigkeit hatte er ihnen all das beigebracht, was er selbst wusste und konnte. Außerdem hatte er Ellen glücklich gemacht, jedenfalls die meiste Zeit über. Und da stehe ich nun, dachte Jack, ein erfolgreicher Dombaumeister, auf dem besten Wege dazu, mein Leben mit dem Bau der schönsten Kathedrale der Welt zu krönen – während Alfred arm ist, keine Arbeit hat und hungern muss. Ist das, nach alledem, nicht Vergeltung genug?
Nein, es ist nicht genug, dachte er.
Doch dann ließ er sich erweichen. »Na schön«, sagte er. »Du bist eingestellt – um Toms willen.«
»Danke«, sagte Alfred mit undurchschaubarer Miene. »Soll ich gleich anfangen?«
Jack nickte. »Wir legen gerade das Fundament fürs Mittelschiff, du kannst gleich mitmachen.«
Alfred streckte ihm die Hand entgegen. Jack zögerte zunächst, doch dann schlug er ein. Alfreds Händedruck war wie immer.
Nachdem Alfred gegangen war, starrte
Weitere Kostenlose Bücher