Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
mehr in die Jahre kam. Philip war stolz auf den Jungen: Er war fromm, ein fleißiger Arbeiter und bei allen Mitbrüdern wohlgelitten.
Eskortiert wurden die beiden auf ihrer Reise von Alienas Bruder Richard, der in Kingsbridge endlich auch seinen Platz gefunden hatte. Nachdem die Stadtmauer gebaut worden war, hatte Philip der Kirchengilde vorgeschlagen, Richard zum Leiter der Stadtwache zu ernennen. Seitdem teilte Richard die Nachtwächter ein, sorgte für die Instandhaltung und Ausbesserung der Mauern und Wälle und war ermächtigt, an Markt- und Feiertagen Trunkenbolde und Störenfriede einzusperren. Seine Aufgaben, die mit der Stadt gewachsen waren, betrafen vor allem Tätigkeiten, die zu erledigen Mönchen untersagt war, und damit hatte sich die Gilde, in der Philip zunächst eine Bedrohung seiner Autorität gesehen hatte, als sehr nützlich erwiesen. Richard war glücklich in seinem neuen Amt. Er war mittlerweile um die dreißig, doch das aktive Leben, das er führte, hatte ihm sein jugendliches Aussehen erhalten.
Auch für Aliena, Richards Schwester, hätte Philip gerne eine zufriedenstellende Lösung gefunden. Wenn jemand sich darüber beklagen konnte, von der Kirche im Stich gelassen worden zu sein, dann gewiss Aliena. Der Mann, den sie liebte, und der Vater ihrer Kinder war Jack, aber die Kirche hielt hartnäckig an ihrer Ehe mit Alfred fest, obwohl Aliena ihm niemals beigewohnt hatte. Die Ehe wurde nur deshalb nicht annulliert, weil der Bischof dagegen war. Es war eine Schande, und Philip fühlte sich schuldig, obwohl er nicht die Verantwortung dafür trug.
Gegen Ende ihrer Rundreise – sie waren schon auf dem Heimweg und ritten durch einen frühlingsbunten Wald – sagte Jonathan unvermittelt: »Ich frage mich, warum Gott es zulässt, dass die Menschen verhungern müssen.«
Das war eine Frage, die jeder junge Mönch früher oder später zu stellen pflegte, und die Antworten darauf waren so zahlreich wie die Sandkörner am Meeresstrand. Philips Antwort lautete: »An dieser Hungersnot trägt Gott keine Schuld.«
»Aber Gott hat das Wetter gemacht, das die mageren Ernten hervorbrachte!«
»Die schlechten Ernten sind es nicht allein«, erwiderte Philip. »Schlechte Ernten gibt es alle paar Jahre wieder, und niemand muss deswegen verhungern. Zu dieser besonderen Not jetzt hat vor allem der lange Krieg beigetragen.«
»Inwiefern?«, fragte Jonathan.
Diesmal war es Richard, der Krieger, der ihm antwortete. »Im Krieg leiden die Bauern immer am ärgsten«, meinte er. »Man raubt ihnen das Vieh, damit die Soldaten zu essen haben, dann werden ihre Getreidefelder niedergebrannt, um zu verhindern, dass sich der Feind an der Ernte gütlich tut, und schließlich vernachlässigen die Grundherren ihre Güter, weil sie selbst als Ritter oder Barone am Krieg teilnehmen.«
»Und wenn die Zukunft im Ungewissen liegt«, fügte Philip hinzu, »fehlt es allen an Mut, Zeit und Kraft, um Wälder zu roden, neue Weiden zu schaffen, die Herden zu vergrößern, Gräben zu ziehen und Scheunen zu bauen.«
»Aber wir haben doch auch nicht damit aufgehört«, wandte Jonathan ein.
»Bei Klöstern sieht das etwas anders aus. Die meisten einfachen Bauern aber ließen in den Kriegsjahren ihre Höfe verkommen, und als das schlechte Wetter einsetzte, waren sie nicht mehr in der Lage, die zusätzliche Belastung zu verkraften. Mönche sind da vorausschauender, obwohl auch das Kloster mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. So sind wegen der Hungersnot zum Beispiel die Wollpreise verfallen.«
»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«, fragte Jonathan.
»Wer am Verhungern ist, braucht keine neuen Kleider mehr. Das wird’s sein.« Philip konnte sich nicht erinnern, dass es schon einmal einen solchen Preisverfall gegeben hatte. Bisher waren die Wollpreise Jahr für Jahr gestiegen. Die Krise wirkte sich unmittelbar auf die Geschäfte des Klosters aus: Philip hatte die Bauarbeiten am Dom einschränken müssen, konnte keine neuen Novizen mehr aufnehmen und musste seinen Mönchen Wein und Fleisch vom Speisezettel streichen. »Es ist ein Jammer, dass wir ausgerechnet jetzt zum Sparen gezwungen sind, da immer mehr Verzweifelte in Kingbsridge um Lohn und Brot bitten.«
»Und so stehen sie am Klostertor um ein bisschen Pferdebrot und Suppe an«, schloss Jonathan.
Philip nickte ernst. Es wollte ihm jedes Mal schier das Herz brechen, wenn er sah, wie viele kräftige Männer um Brot betteln mussten, weil sie keine Arbeit fanden. »Aber
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