Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Baumeister beraten, der eine ähnliche Kirche errichtet hatte, doch in England gab es keinen solchen, und selbst in Frankreich war noch nicht so hoch gebaut worden.
Aus einer Augenblickslaune heraus begab er sich nicht zu seinem Zeichenboden, sondern stieg weiter hinauf bis ins Dach. Die Bleiplatten waren nun alle verlegt, und das Türmchen, an dem sich das Regenwasser gestaut hatte, war mit einem breiten Abflussrohr versehen. Es war sehr windig. Jedes Mal, wenn Jack der Dachkante nahe kam, sah er sich nach einem geeigneten Halt um – schon so manch einen Baumeister hatte der Wind vom Dach gefegt und in die Tiefe stürzen lassen! Hier oben kam ihm der Wind immer viel heftiger vor als unten auf der Erde, ja, es war, als stiege die Windstärke unproportional schnell an, je höher man stieg …
Jack blieb stehen, den Blick ins Nichts gewandt. Der Wind wurde unproportional stärker, je höher man stieg. Das war die Lösung des Rätsels! Nicht das Gewicht verursachte die Risse, die Höhe war schuld! Er war ganz sicher, dass er die Kirche stark genug gebaut hatte, um das Gewicht zu tragen – aber er hatte den Wind vergessen. An diesen turmhohen Mauern rüttelte und zerrte er unablässig, und so kam es dann zwangsläufig zu Rissen. Auf dem Dach der Kirche stehend, spürte er die Gewalt, mit der der Wind an ihren Mauern zerrte, als wäre er mit ihr verschmolzen. Der Windstöße trafen die Kirche von der Seite, so wie sie ihn selbst trafen, und da sich der Bau unter den heftigen Böen nicht biegen konnte, bekam er Risse.
Das also war die Erklärung – aber was ließ sich dagegen tun? Der Lichtgaden musste so verstärkt werden, dass er dem Wind standhielt. Nur wie? Wenn man die Außenmauern mit massiven Stützpfeilern verstärkte, war es um den alle Welt verblüffenden Eindruck von Anmut und Leichtigkeit, auf den Jack so viel Mühe und Sorgfalt verwendet hatte, geschehen.
Aber es blieb wohl nichts anderes übrig. Schließlich durfte seine Kirche nicht zusammenbrechen.
Auf dem Weg hinunter fühlte er sich, obwohl er endlich die Erklärung für das Rätsel gefunden hatte, niedergeschlagen und enttäuscht. Die Lösung des Problems zerstörte seinen alten Traum. Vielleicht war ich zu anmaßend, dachte er. Die schönste Kathedrale der Welt wollte ich bauen! Wie konnte ich mir nur einbilden, ich könne alles besser machen als andere, ich wäre etwas Besonderes! Ich hätte lieber die ausgereiften Pläne eines anderen Baumeisters kopieren und mich damit zufriedengeben sollen.
Beim Zeichenboden wartete Philip auf ihn. Seine Stirn war sorgenzerfurcht, der ergrauende Haarkranz um seine Tonsur ungekämmt. Der Prior sah aus, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan.
»Wir müssen unsere Ausgaben reduzieren«, sagte er ohne jegliche Einleitung. »Wir haben nicht mehr genug Geld, um im derzeitigen Tempo weiterzubauen.«
Das hatte Jack schon befürchtet. Die Windhose, die über das südliche England hinweggefegt war, hatte beinahe die gesamte Ernte vernichtet und damit natürlich auch das Kloster und seine Finanzen schwer getroffen. Jedes Mal, wenn von Einsparungen die Rede war, wurde ihm angst und bange: Wenn sich die Arbeiten zu lange hinziehen, so fürchtete er insgeheim, dann werde ich die Fertigstellung meiner Kathedrale nicht mehr erleben … Philip gegenüber ließ er sich nichts von seinen Befürchtungen anmerken. Eher beiläufig sagte er: »Der Winter kommt in diesem Jahr früh, da können wir ohnehin nicht so viel tun.«
»Für mich kommt er noch nicht früh genug«, verkündete Philip mit finsterer Entschlossenheit. »Ich will sämtliche Ausgaben auf die Hälfte beschränken, und zwar sofort.«
»Auf die Hälfte?« Das klang ganz und gar unmöglich!
»Die Winterpause beginnt mit dem heutigen Tage.«
Das war weit schlimmer, als Jack angenommen hatte! Die Saisonarbeiter verließen die Baustelle gewöhnlich Anfang Dezember und verbrachten die Wintermonate bei ihren Familien, wo sie Holzhäuser bauten oder Pflüge und Karren, sei’s für ihre Angehörigen, sei’s um Geld zu verdienen. In diesem Jahr würde sich über ihre Heimkehr niemand freuen. »Ist Euch denn nicht klar«, fragte er, »dass Ihr die Leute in Dörfer heimschickt, wo es schon jetzt nichts mehr zu beißen gibt?«
Philip bedachte ihn zur Antwort mit einem zornigen Blick.
»Entschuldigt die dumme Frage«, sagte Jack. »Natürlich ist es Euch klar.«
»Wenn ich sie jetzt nicht entlasse«, erklärte Philip mit Nachdruck, »dann stehen eines
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