Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
will, welches Pferd er zu reiten gedenkt – was immer Euch einfällt. Dann geht zum Küchenmeister, zum Haushofmeister und zum Stallaufseher und gebt die Befehle des Grafen weiter. Euer Gatte wird Euch dankbar sein und zornig gegen jeden werden, der Eure Anordnungen nicht befolgt. Mit der Zeit gewöhnen sich die Leute daran, dass sie zu tun haben, was Ihr ihnen auftragt. Dann habt ein Auge darauf, wer Euch bereitwillig dient und wer nur widerwillig. Macht deutlich, dass Ihr die Bereitwilligen belohnt – gebt ihnen die Arbeiten, die sie gern tun, und überlasst die unangenehmen Arbeiten den Widerwilligen. Auf diese Weise wird bald allen klar sein, dass es sich lohnt, die Wünsche der Gräfin zu befolgen. Außerdem werdet Ihr ihnen bald sehr viel lieber sein als William, der ohnehin keine liebenswerte Person ist. Ihr werdet sehen, am Ende seid Ihr eine Macht aus eigenem Recht – wie viele andere Gräfinnen auch.«
»Es hört sich so leicht an, wie Ihr das sagt«, seufzte Elisabeth sehnsüchtig.
»Nein, leicht ist es nicht, aber wenn Ihr Euch in Geduld übt und Euch nicht allzu rasch entmutigen lasst, könnt Ihr es schaffen.«
»Ja, ich glaube, das kann ich«, sagte sie entschlossen. »Das kann ich bestimmt.«
Nach einer Weile fielen sie in einen leichten Schlaf. Nur der Wind, der hin und wieder aufheulte, weckte Aliena jedes Mal auf. Im unsteten Licht der Kerze sah sie, dass die meisten Erwachsenen es ihr gleichtaten: Sie saßen aufrecht, nickten für kurze Zeit ein und schreckten immer wieder auf.
Es musste schon um Mitternacht sein, als Aliena plötzlich hochfuhr und feststellte, dass sie diesmal beinahe eine Stunde oder noch länger geschlafen hatte. Um sie herum lag alles in tiefem Schlummer. Sie streckte sich auf dem Boden aus und wickelte sich fest in ihren Umhang. Der Sturm hatte noch immer nicht nachgelassen, doch die Müdigkeit hatte die Furcht der Leute besiegt. Das Geräusch des Regens, den der Wind gegen die Kirchenmauern trieb, klang wie Meereswogen, die mit der Flut über den Strand gespült wurden, und statt Aliena wachzuhalten, sang es sie nun in den Schlaf.
Irgendwann fuhr sie erneut auf und fragte sich, was ihr so ungewöhnlich vorkam. Sie lauschte: Stille. Das Unwetter hatte sich ausgetobt. Durch die Fenster schimmerte schwach ein graues Licht. Die Dorfbewohner lagen noch in tiefem Schlummer.
Aliena stand auf. Ihre Bewegungen weckten Elisabeth, die sofort hellwach war.
Sie hatten beide den gleichen Gedanken. Sie gingen zur Kirchentür und traten ins Freie hinaus.
Es hatte aufgehört zu regnen, und der Wind war kaum mehr als eine leichte Brise. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Himmel schimmerte perlmutterfarben in der heraufziehenden Morgendämmerung. Die beiden Frauen sahen in das klare, wasserhelle Licht hinaus.
Das Dorf war verschwunden.
Außer der Kirche war kein einziges Haus stehen geblieben. Ein paar schwere Holzbalken waren an der Kirchenmauer angetrieben; ansonsten wiesen nur die gemauerten Feuerstellen inmitten der Schlammwüste darauf hin, dass hier einmal Häuser gestanden hatten. Am ehemaligen Dorfrand fanden sich fünf oder sechs ausgewachsene Bäume, Eichen und Kastanien, die das Unwetter zwar überlebt, aber nicht wenige Äste dabei eingebüßt hatten. Von den jungen Bäumchen war kein einziges mehr zu sehen.
Angesichts dieses Bildes vollendeter Zerstörung verschlug es Aliena die Sprache, und Elisabeth schien es nicht anders zu gehen. Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg über das Schlammfeld, das einmal die Dorfstraße gewesen und nun übersät war mit zersplittertem Holz und toten Vögeln.
Am Rande des ersten Weizenfelds blieben sie stehen: Es sah aus, als hätte man darauf über Nacht eine Herde wilder Stiere eingepfercht. Was gestern noch wogendes Kornfeld gewesen, war heute niedergedrückt, geknickt, entwurzelt, davongeschwemmt, die Ackerkrume aufgewühlt, mit Wasserlöchern durchsetzt.
Aliena sah es mit Entsetzen. »O mein Gott!«, murmelte sie. »Was sollen die armen Leute bloß essen?«
Sie überquerten das Feld, bestiegen einen kleinen Hügel und blickten von der Anhöhe ringsum ins Land. Wohin das Auge auch fiel – nichts als zerstörte Felder, tote Schafe, geknickte Bäume, überflutete Weiden und fortgewehte Häuser. Das Ausmaß der Tragödie war so entsetzlich, dass Aliena den Schmerz der Tragödie körperlich zu spüren glaubte. Es sieht aus, dachte sie, als wäre Gott persönlich auf England herniedergefahren und hätte das Land
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