Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
nicht viele Äpfel in der Grafschaft geben, dachte Aliena.
Kurz darauf hatten sie die Kirche erreicht und traten ein. Die plötzliche Stille schlug sie wie mit Taubheit. Draußen heulte zwar noch immer der Wind, der Regen trommelte aufs Dach, und ein Donnergrollen folgte dem anderen, doch klang alles gedämpft, entfernt. Die Dorfbewohner hatten ebenfalls schon Zuflucht in der Kirche gesucht und standen in ihren durchnässten Umhängen herum. Ihren wertvollsten Besitz hatten sie mitgebracht: die Hühner in Säcken, die Schweine zusammengebunden, die Kühe an Stricken geführt. Kurz darauf brachte Alienas Knecht den Wagen herein, gefolgt von Ranulf mit den Pferden. Hin und wieder tauchte ein Blitz das Durcheinander von Menschen und Tieren in gespenstisches Licht.
»Schaffen wir doch die Tiere auf die eine und die Leute auf die andere Seite«, schlug Aliena dem Priester vor. »Sonst sieht die Kirche binnen kurzem wie ein Viehstall aus.« Mittlerweile schien der Gottesmann sich mit ihrer Führungsrolle abgefunden zu haben. Er nickte gehorsam und begann auf die Männer einzureden, während Aliena sich um die Frauen kümmerte, die ihre Kinder in den kleinen Altarraum führten. Die Männer banden die Tiere an den Pfeilern im Mittelschiff fest. Die schreckhaften Pferde rollten dabei mit den Augen und bäumten sich auf, die Kühe hingegen legten sich seelenruhig nieder. Die Dorfbewohner fanden sich zu Familien zusammen und labten sich an den mitgebrachten Vorräten. Sie hatten sich offenkundig auf einen längeren Aufenthalt eingerichtet.
Das Unwetter tobte so heftig, dass Aliena meinte, es müsse schnell vorübergehen, doch statt dessen wurde es immer schlimmer. Sie ging zu einem Fenster, das natürlich nicht verglast war, sondern mit feinem, durchsichtigem Leinen bespannt, das inzwischen zerfetzt im Rahmen hing. Aliena zog sich zur Fensterbank hinaus, doch alles, was sie draußen wahrnehmen konnte, war Regen, Regen, Regen.
Der Wind hatte noch zugenommen und heulte nun so laut um das Gebäude, dass Aliena befürchtete, selbst die Kirche könne nur unzureichenden Schutz gewähren. Stillschweigend unterzog sie die Mauern einer kritischen Prüfung. Sie hatte genug von Jack gelernt, um gute Maurerarbeit von schlechter unterscheiden zu können, und stellte erleichtert fest, dass hier sorgfältig und ordentlich gearbeitet worden war. Nirgendwo zeigten sich Risse. Die Kirche war aus zugehauenen Steinblöcken errichtet worden und wirkte unerschütterlich wie ein Fels. Als die Haushälterin des Priesters eine Kerze anzündete, wurde Aliena klar, dass draußen nun tatsächlich die Nacht hereinbrach. Die Kinder wurden es allmählich müde, in den Seitenschiffen auf und ab zu rennen, rollten sich in ihren Umhängen zusammen und legten sich schlafen. Die Hühner steckten ihre Köpfe unters Gefieder. Aliena und Elisabeth ließen sich nebeneinander auf dem Fußboden nieder und lehnten den Rücken an die Wand.
Aliena brannte schon eine ganze Weile darauf zu erfahren, wie dieses arme Mädchen die Rolle als Williams Ehefrau bewältigte – eine Rolle, die zu spielen sie selbst vor siebzehn Jahren sich entschieden geweigert hatte. Sie gab nun ihrer Neugier nach und fragte: »Wie ist William denn heute so? Ich war als junges Mädchen mit ihm bekannt.«
»Er ist abscheulich«, sagte Elisabeth so heftig, dass Aliena tiefes Mitleid überkam. »Wie habt Ihr ihn kennengelernt?«
Das hab ich nun von meiner Neugier, dachte Aliena und gestand: »Um die Wahrheit zu sagen – als ich ungefähr in Eurem Alter war, hätte ich ihn heiraten sollen.«
»Nein! Und wieso habt Ihr es nicht getan?«
»Ich habe seinen Antrag abgelehnt, und mein Vater hat mich dabei unterstützt. Allerdings gab es dann einen fürchterlichen Aufruhr und eine Menge Blutvergießen. Aber das liegt nun schon alles sehr lange zurück.«
»Ihr habt seinen Antrag abgelehnt!« Elisabeth wirkte beinahe begeistert. »Wie mutig Ihr seid! Ich wünschte, ich wäre genauso.« Mit einem Mal sah sie wieder ganz niedergeschlagen aus. »Aber ich kann mich nicht einmal beim Gesinde durchsetzen.«
»Aber sicher könntet Ihr das«, meinte Aliena.
»Wie denn? Die übersehen mich einfach, weil ich erst vierzehn bin.«
Aliena dachte gründlich nach, bevor sie die Frage beantwortete. »Zunächst einmal müsst Ihr sozusagen das Sprachrohr für die Wünsche Eures Gatten werden. Fragt ihn gleich jeden Morgen, was er zu Mittag gerne essen würde, wen er im Lauf des Tages empfangen oder aufsuchen
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