Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
werden sie aber auch durch Verstärkung von außen entsetzt. Ich habe auch schon erlebt, dass Feigheit, List oder Verrat zum Fall einer Burg geführt haben – nie aber ein Frontalangriff.«
Aliena war noch nicht zum Einlenken bereit. »Dann sag mir doch mal, was geschehen würde, wenn du morgen deine Streitmacht gegen Earlscastle führtest.«
»Bevor wir in die Burg hineinkämen, würde die Besatzung die Zugbrücke hochziehen und die Tore schließen. Das heißt, wir wären gezwungen, sie zu belagern. William würde von der Belagerung Wind bekommen und so schnell wie möglich zurückkehren und unser Lager attackieren. Selbst wenn es uns gelänge, ihn zurückzuschlagen, wäre die Burg noch lange nicht in unserer Hand. Burgen sind schwer anzugreifen und leicht zu verteidigen – deshalb werden sie ja gebaut!«
Noch während er sprach, keimte eine Idee in Alienas aufgewühltem Geist. »Feigheit, List oder Verrat«, sagte sie.
»Was?«
»Du hast also schon mehrere Burgen durch Feigheit, List oder Verrat fallen sehen.«
»O ja.«
»Auf welche Weise hat William uns denn damals die Burg weggenommen?«
»Das waren ganz andere Zeiten!«, warf Philip ein. »Damals, unter dem alten König Henry, herrschte seit fünfunddreißig Jahren Frieden im Land. William hat Euren Vater schlichtweg überrascht.«
»Ja – mit einer List«, sagte Richard. »Er hat sich, bevor Alarm geschlagen werden konnte, mit ein paar Männern in die Burg eingeschlichen. Heutzutage, da gebe ich Euch völlig recht, würde ihm das kaum noch gelingen. Die Leute sind heute viel vorsichtiger.«
» Ich käme schon hinein«, sagte Aliena zuversichtlich, obgleich ihr das Herz bis zum Halse schlug.
»Ja natürlich, du schon«, sagte Richard. »Du bist ja auch eine Frau. Nur könntest du drinnen nicht viel ausrichten. Deshalb würden sie dich ja auch einlassen. Du bist harmlos.«
»Sei nicht so verdammt anmaßend!«, fuhr sie ihn an. »Ich habe getötet, um dich zu schützen – und das ist weit mehr, als du jemals für mich getan hast, du undankbarer Mistkerl! Also untersteh dich, mich noch einmal als ›harmlos‹ zu bezeichnen!«
»Gut, gut, dann bist du eben nicht harmlos«, erwiderte Richard ärgerlich. »Was hast du denn vor, wenn du erst einmal in der Burg bist?«
Alienas Zorn verflog rasch. Was würde ich tun, dachte sie angstvoll. Verdammt – ich bin doch mindestens genauso mutig und erfinderisch wie William, dieses Schwein … »Was hat William denn getan?«
»Er hat dafür Sorge getragen, dass die Brücke nicht mehr hochgezogen werden konnte und dass das Tor offenstand, als die Hauptstreitmacht eintraf.«
»Dann mach ich das auch!«, sagte Aliena, ihrer Angst zum Trotz.
»Und wie?«
Aliena erinnerte sich an ein vierzehnjähriges Mädchen, das sich vor einem Unwetter fürchtete. Sie hatte es getröstet. »Die Gräfin ist mir noch einen Gefallen schuldig«, sagte sie. »Außerdem hasst sie ihren Mann.«
Sie ritten die Nacht hindurch – Aliena, Richard und fünfzig seiner besten Leute. Im Morgengrauen hatten sie Earlscastle fast erreicht. Im Schutz des Waldes hielten sie an; zwischen ihnen und der Burg lag freies Feld. Aliena stieg vom Pferd, zog ihren Mantel aus flandrischer Wolle und ihre weichen Lederstiefel aus. Statt dessen schlug sie das grobe Tuch einer Bauersfrau um sich und schlüpfte in ein Paar Holzschuhe. Einer ihrer Begleiter reichte ihr einen Korb mit in Stroh verpackten frischen Eiern, den sie sich über den Arm hängte.
Richard musterte sie von oben bis unten und sagte: »Tadellos! Eine Bäuerin, die der Burgküche ihre Eier verkaufen will.«
Aliena schluckte. Gestern noch war sie voller Feuer und Kühnheit gewesen – nun aber, da es ernst wurde, hatte sie nur noch Angst.
Richard gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Wenn ich die Glocke höre«, sagte er, »spreche ich einmal langsam das Vaterunser. Danach setzt sich die Vorhut in Marsch. Du brauchst nichts weiter zu tun, als die Wachen in vermeintlicher Sicherheit zu wiegen, sodass zehn von meinen Leuten, ohne Verdacht zu erregen, über die Felder und in die Burg kommen.«
Aliena nickte. »Pass nur auf, dass die Haupttruppe die Deckung erst verlässt, wenn die Vorhut die Zugbrücke überquert hat.«
Er lächelte. »Mach dir darüber nur keine Sorgen, ich werde an ihrer Spitze stehen. Viel Glück!«
»Dir auch!«
Aliena ging.
Sie ließ den Wald hinter sich zurück und schritt über das freie Feld auf die Burg zu, die sie an jenem furchtbaren Tag vor nunmehr
Weitere Kostenlose Bücher