Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
sechsunddreißig Schiffen das Meer überquert und ist in Wareham an Land gegangen«, antwortete die Hexe. »Mit ihm kam eine dreitausend Mann starke Armee. Wir haben es mit einer Invasion zu tun.«
Winchester war voller Menschen, Spannung und Gefahr. Beide Heere lagen hier einander gegenüber: Die Truppen König Stephans waren in der Burg kaserniert, während das Rebellenheer unter Herzog Henry – darunter auch Richard und seine Outlaws – außerhalb der Stadtmauern auf dem St.-Giles-Hügel sein Lager aufgeschlagen hatte, dort, wo alljährlich der Jahrmarkt stattfand. Sich in der Stadt herumzutreiben war den Soldaten beider Seiten versagt, doch viele kümmerten sich nicht um das Verbot. Sie verbrachten ihre Abende in Schenken, beim Hahnenkampf und in Hurenhäusern, wo sie sich volllaufen ließen, die Weiber missbrauchten und sich überm Würfelspiel in die Haare gerieten. Nicht selten gab es dabei Tote.
Im Sommer, nach dem Tod seines ältesten Sohnes, hatte Stephan das Kampfglück endgültig verlassen. Jetzt saß er in seiner Burg, und Herzog Henry residierte im Bischofspalast.
Ihre Diplomaten verhandelten derweil über einen Friedensschluss. Erzbischof Theobald von Canterbury vertrat den König. Bischof Henry von Winchester, jener alte Makler der Macht, den Herzog. Jeden Morgen trafen sich die beiden Unterhändler im Bischofspalast. Zur Mittagsstunde schritt Herzog Henry mit seinem Gefolge, zu dem auch Richard von Kingsbridge gehörte, durch die Straßen von Winchester zur Burg, um dort zu speisen.
Als Aliena den Herzog zum ersten Mal sah, konnte sie nicht glauben, dass dieser Mann ein Reich von der Größe Englands beherrschte. Er war nicht älter als zwanzig Jahre und hatte ein sonnengebräuntes Gesicht mit vielen Sommersprossen, das eher zu einem Bauern gepasst hätte. Er trug eine schmucklose dunkle Tunika ohne Zierrat, und sein rötliches Haar war kurz geschnitten. Er sah aus wie der hart arbeitende Sohn eines wohlhabenden Gutsbesitzers.
Es dauerte eine Weile, bis Aliena erkannte, dass diesen Mann die Aura der Macht umgab. Er war kräftig und untersetzt, hatte breite Schultern und einen großen Kopf. Der Eindruck roher körperlicher Stärke wurde indessen durch die wachen grauen Augen etwas gemildert. Die Männer in seiner Umgebung achteten darauf, ihm nie zu nahe zu kommen, sondern behandelten ihn mit vorsichtiger Vertrautheit, als fürchteten sie, er könne jederzeit wild um sich schlagen.
Die gemeinsamen Mittagessen auf der Burg, bei dem die Führer der verfeindeten Armeen am gleichen Tisch saßen, mussten in einer sehr gespannten Atmosphäre stattfinden. Für Aliena war es jedenfalls anders kaum vorstellbar. Sie fragte sich, wie Richard es überhaupt ertragen konnte, mit Graf William an einem Tisch zu sitzen. Sie an seiner Stelle hätte mit ihrem Messer nicht das gebotene Wildbret attackiert, sondern William … Sie selbst hatte William nur kurz und aus einiger Entfernung zu Gesicht bekommen. Er machte einen besorgten, übelgelaunten Eindruck, was Aliena als gutes Zeichen ansah.
Während die Grafen, Bischöfe und Äbte im Wohnturm zusammentrafen, versammelte sich der niedere Adel – die Ritter, Vögte, kleinen Landedelleute, Gerichtsverwalter und Kastellane – im Burghof. Es waren Leute, die zu einer Zeit, da wichtige Entscheidungen über die Zukunft des Königsreichs – und damit auch über ihre eigene Zukunft – getroffen wurden, der Hauptstadt nicht einfach fernbleiben konnten. Unter ihnen befand sich auch Prior Philip, dem Aliena meist vormittags im Burghof begegnete. Die Gerüchteküche brodelte und kochte jeden Tag etwas Neues aus. Einmal hieß es, alle Grafen, die Stephan unterstützten, sollten ihres Titels verlustig gehen (womit William erledigt gewesen wäre). Am nächsten Tag verlautete dagegen, es bliebe alles beim Alten (womit Richard alle Hoffnungen hätte begraben können). Einmal hieß es, sämtliche Burgen Stephans sollten geschleift werden, das nächste Mal, die Burgen der Rebellen, beim übernächsten Mal waren alle Burgen im Gespräch und beim vierten Mal keine einzige mehr … Einem anderen Gerücht zufolge sollte jeder einzelne Verbündete Henrys geadelt werden und hundert Morgen Land erhalten. Richard war daran nicht interessiert – was er wollte, war seine Grafschaft.
Auch Richard konnte nicht sagen, was an den verschiedenen Gerüchten nun stimmte und was nicht: Er gehörte zwar auf dem Schlachtfeld zu Henrys engsten Ratgebern, wurde aber bei den politischen
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