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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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sechzehn Jahren verlassen hatte. Angesichts der vertrauten Umgebung kehrten auch die Erinnerungen zurück – lebhaft und schauerlich wie selten zuvor … Sie spürte die Luft jenes Tages, noch feucht vom Regen der vergangenen Nacht. Sie dachte an die beiden Pferde, auf denen sie in wilder Flucht davongesprengt waren – Richard auf dem Schlachtross und sie auf dem kleineren Tier –, und an die Todesangst, die ihnen in den Knochen steckte … Ganz bewusst hatte sie sich darum bemüht, die furchtbaren Dinge, die ihr geschehen waren, zu vergessen, indem sie sich im Rhythmus der Hufschläge des Pferdes immer wieder einsagte: Ich kann mich nicht erinnern, ich kann mich nicht erinnern, ich kann es nicht, ich kann es nicht … Es hatte tatsächlich geklappt. Auf lange Zeit hinaus war sie nicht imstande gewesen, sich an die Vergewaltigung zu erinnern. Sie wusste noch, dass etwas sehr Schlimmes vorgefallen war, doch die Einzelheiten waren wie fortgeblasen. Erst als sie sich in Jack verliebt hatte, war die Erinnerung zurückgekehrt – und dies mit so furchtbarer Macht, dass sie seine Liebe nicht erwidern konnte. Gott sei Dank hatte er so viel Geduld mit ihr gehabt. Es war für sie ein Beweis für die Stärke seiner Liebe: Er hatte so viel in Kauf nehmen müssen – und liebte sie immer noch.
    Es war nicht mehr weit bis zur Burg. Um sich zu beruhigen, beschwor sie auch noch einige schöne Erinnerungen an Earlscastle herauf. Hier hatte sie ihre Kindheit verbracht, mit Richard und ihrem Vater, Graf Bartholomäus. Sie hatten in Wohlstand und Sicherheit gelebt. Sie hatte mit ihrem Bruder auf den Wallanlagen der Burg getollt, in der Küche herumgelungert und sich süßes Backwerk zustecken lassen und beim Abendessen im großen Saal neben ihrem Vater gesessen. Ich wusste damals gar nicht, dass ich glücklich war, dachte sie. Ich wusste nicht, was für ein großes Glück es ist, wenn es nichts gibt, wovor man sich fürchten muss.
    Und wenn ich heute alles richtig mache, werden die guten Zeiten wieder zurückkehren.
    Die Gräfin ist mir noch einen Gefallen schuldig, hatte sie zuversichtlich gesagt, und: Außerdem hasst sie ihren Mann  … Doch schon während des nächtlichen Ritts waren ihr Bedenken gekommen. Was konnte nicht alles noch schiefgehen! Zunächst einmal war keineswegs sicher, ob sie überhaupt in die Burg hineinkam – schließlich konnte die Besatzung eine Warnung erhalten haben. Vielleicht hatten die Wachen Verdacht geschöpft, vielleicht hatte sie auch bloß Pech und geriet gleich an einen Wachposten, der sie nicht einlassen wollte. Und selbst wenn zu Beginn alles nach Plan verlief – ob Elisabeth sich von ihr tatsächlich dazu überreden lassen würde, ihren Gatten zu verraten, stand auch noch in den Sternen. Seit jener Begegnung im Unwetter waren inzwischen anderthalb Jahre vergangen. Es war durchaus nicht selten, dass Frauen sich im Laufe der Zeit auch an die furchtbarsten Ehemänner gewöhnten.
    Vielleicht hatte Elisabeth sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Schließlich bestand auch noch die Möglichkeit, dass Elisabeth, selbst wenn sie Alienas Plan zustimmte, gar nicht die Autorität oder den Mut besaß, die erforderlich waren, um ihn in die Tat umzusetzen. In jener Sturmnacht war sie ein furchtsames kleines Mädchen gewesen; wer konnte schon sagen, ob die Wache überhaupt bereit war, ihren Anordnungen Folge zu leisten?
    Als Aliena die Zugbrücke überquerte, waren ihre Sinne aufs Äußerste gespannt. Mit geradezu übernatürlicher Klarheit sah und hörte sie alles, was um sie herum vor sich ging. Die Besatzung der Burg war gerade erst aufgewacht. Auf dem Schanzwerk lungerten ein paar trübsinnig dreinschauende, gähnende und hustende Wachen herum. Im Torbogen saß ein alter Hund und kratzte sich. Aliena zog sich die Kapuze tief ins Gesicht, um nicht erkannt zu werden.
    Auf der Bank im Torhaus saß ein schäbig gekleideter Posten und kaute an einem riesigen Stück Brot. Sein Schwertgurt hing an der rückwärtigen Wand an einem Haken. Klopfenden Herzens bedachte ihn Aliena mit einem Lächeln, das über ihre Angst hinwegtäuschte, und zeigte ihm den Eierkorb.
    Mit einer ungeduldigen Handbewegung winkte er sie durch.
    Das erste Hindernis war überwunden.
    Die Disziplin auf der Burg ließ sehr zu wünschen übrig. Kein Wunder: Die Besatzung war mehr oder weniger eine symbolische Truppe. Sie hatte man hiergelassen, während die besten Männer in den Krieg gezogen waren. Anderswo ging es hoch her –

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