Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
man den Pfeilern jeweils auch noch eine hübsche Fiale aufsetzen, ja, das sähe gewiss besser aus …
Es war ein revolutionärer Gedanke: ein starkes, offenes Strebewerk, welches das äußere Bild der Kathedrale entscheidend prägen würde. Die Idee entsprach durchaus dem neuen Stil, der die Statik des Gebäudes nicht mehr verbergen wollte.
Und außerdem sagte ihm sein Gefühl, dass es stimmte.
Je mehr Jack darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm der Gedanke. Er stellte sich die Kirche von der Westseite her vor: Da sahen die Schwibbogen aus wie Vogelschwingen, ja, wie ein ganzer Vogelschwarm, kurz bevor er sich in die Lüfte erhob. Wer sagte, dass sie so massiv sein mussten? Schlank und elegant konnten sie sein, vorausgesetzt, sie waren gut gebaut, leicht und doch stark – wie Vogelschwingen eben. Geflügelte Strebepfeiler, dachte er – für eine Kirche, die so leicht war, dass sie fliegen konnte …
Ob das klappt, fragte er sich. Ob das wirklich klappt?
Ein plötzlicher Windstoß packte ihn und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er geriet ins Taumeln, hoch oben an der Kante des Daches. Schon sah er sich in den Tod stürzen, doch da gelang es ihm wie durch ein Wunder, sich wieder zu fangen. Rasch trat er einen Schritt zurück; sein Herz klopfte ihm bis zum Hals.
Langsam und vorsichtig trat er den Rückweg über das Dach an und erreichte unversehrt die Wendeltreppe.
+++
Die Bauarbeiten an der Kirche in Shiring waren vollends zum Erliegen gekommen. Prior Philip ertappte sich dabei, dass er eine gewisse Genugtuung empfand. Nachdem er selbst so lange den trostlosen Anblick einer verwaisten Dombaustelle vor Augen gehabt hatte, konnte er einfach nicht anders, als sich heimlich darüber zu freuen, dass es seinen Feinden nun genauso erging. Alfred Builder hatte vor Williams Sturz gerade noch Zeit gehabt, die alte Kirche niederzureißen und die Fundamente für den Chorraum der neuen zu legen. Dann war von einem Tag auf den anderen das Geld ausgeblieben. Philip erkannte durchaus das Sündhafte an seiner Schadenfreude über einen unvollendeten Kirchenbau, sah andererseits darin aber auch ein Zeichen dafür, dass Gott die neue Kathedrale eben in Kingsbridge sehen wollte und nicht in Shiring. Dass Walerans Vorhaben von Anfang an unter einem unglücklichen Stern gestanden hatte, war ein deutliches Indiz für die göttlichen Absichten.
Das Grafschaftsgericht tagte, seitdem die größte Kirche der Stadt abgerissen war, im großen Saal der Burg. Mit Jonathan an seiner Seite ritt Philip den Burgberg hinauf.
Im Zuge der Umbesetzungen in der Klosterverwaltung nach der Flucht von Subprior Remigius hatte er Jonathan zu seinem Adlatus gemacht. Der Treuebruch seines Stellvertreters hatte Philip schwer getroffen, doch war er inzwischen froh, ihn endlich los zu sein. Von jenem Tag an, da er ihn in der Priorwahl besiegt hatte, war Remigius ein Stachel in seinem Fleisch gewesen. Seit seinem Verschwinden war das Leben im Kloster angenehmer.
Neuer Subprior war Milius, der darüber hinaus, von drei Mitbrüdern unterstützt, sein Amt als Kämmerer behielt. Was Remigius den ganzen Tag über getrieben hatte, konnte sich nun, da er fort war, niemand mehr so richtig vorstellen.
Die Arbeit mit seinem Adlatus Jonathan erfüllte den Prior mit großer innerer Befriedigung. Es machte ihm Spaß, den jungen Mann in die Finessen der Klosterleitung und allgemein in weltliche Dinge einzuweihen. Auch bedurfte er noch der Führung im Umgang mit anderen Menschen: Zwar war der Junge überall recht beliebt, doch konnte er recht brüsk sein und weniger selbstbewusste Mitmenschen mit seinem Verhalten leicht vor den Kopf stoßen. Er musste noch lernen, dass Feindseligkeit ihm gegenüber oft nichts anderes war als ein Ausdruck von Schwäche. Bisher sah er nur die Feindseligkeit und brauste auf – anstatt auch die Schwäche zu erkennen und aufbauend zu wirken.
Jonathan hatte eine rasche Auffassungsgabe, die Philip immer wieder überraschte. Ich war ganz ähnlich, dachte er manchmal, um gleich darauf zu bekennen, dass er sich der Sünde der Hoffart schuldig gemacht hatte.
An diesem Tag hatte er Jonathan mitgenommen, um ihm zu zeigen, wie die weltliche Gerichtsbarkeit der Grafschaft arbeitete. Der Prior wollte mit Hilfe des Gerichts seinen Anspruch auf Ausbeutung des Steinbruchs durchsetzen. Er war sich seiner Sache ziemlich sicher: Das Recht stand nicht auf Richards Seite. Denn die im Friedensvertrag festgesetzte Bestimmung, dass den ehemaligen
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