Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Hoffnung, eines Tages Dekan von Shiring zu werden. Doch kaum hatte er sein Ziel erreicht, da war es zu Asche geworden.
Philip veranlasste sein Pferd, die Straße zu verlassen, und ritt über das Ödland auf Remigius zu. Jonathan folgte ihm. Ein übler Geruch schien wie Nebel von dem Gelände aufzusteigen. Als sie näher kamen, sahen sie, dass Remigius bis auf die Knochen abgemagert war. Sein Habit war schmutzig, und er trug keine Schuhe. Er war jetzt sechzig Jahre alt und hatte sein gesamtes Erwachsenenleben in der Priorei Kingsbridge verbracht. Auf das raue Leben außerhalb der Klostermauern hatte ihn nie jemand vorbereitet. Philip sah, wie er ein Paar Lederschuhe aus dem Unrat zog. In den Sohlen waren riesige Löcher, doch Remigius starrte die Schuhe an wie ein Mann, der einen vergrabenen Schatz gefunden hat. Er wollte sie gerade anprobieren, als er Philip gewahrte.
Er richtete sich auf. Scham und Trotz kämpften in seinem Herzen, und seine Miene spiegelte die innere Zerrissenheit wider. Schließlich sagte er: »Seid Ihr gekommen, um Euch an meiner Not zu weiden?«
»Nein«, antwortete Philip milde. Sein alter Widersacher bot einen so erbärmlichen Anblick, dass er nur Mitleid mit ihm empfand. Er stieg vom Pferd und holte eine Flasche aus der Satteltasche. »Ich bin gekommen, um dir einen Schluck Wein anzubieten.«
Remigius wollte das Angebot eigentlich nicht annehmen, war aber zu ausgehungert, um lange zu widerstreben. Er zögerte nur kurz, dann riss er Philip die dargebotene Flasche aus der Hand und setzte sie an den Mund. Nachdem er erst einmal zu trinken begonnen hatte, konnte er nicht mehr aufhören. In wenigen Augenblicken war die Flasche leer. Leicht schwankend setzte er sie ab.
Philip verstaute die Flasche wieder in der Satteltasche. »Du brauchst auch was zu essen«, sagte er und reichte Remigius einen kleinen Laib Brot.
Remigius nahm das Brot entgegen und machte sich gierig darüber her. Brocken um Brocken stopfte er sich in den Mund. Es war unschwer zu erkennen, dass er schon seit Tagen nichts mehr gegessen hatte. Die letzte anständige Mahlzeit lag vermutlich schon mehrere Wochen zurück. Er ist dem Tode nahe, dachte Philip betrübt – und stirbt er nicht vor Hunger, so vor Scham.
Das Brot war schnell verzehrt. »Willst du zu uns zurückkehren?«, fragte Philip.
Er hörte, wie Jonathan erschrocken die Luft anhielt. Wie viele andere Mitbrüder hätte der junge Mann Remigius am liebsten nie wiedergesehen. Wahrscheinlich hält er mein Angebot für vollkommen verfehlt, dachte Philip.
»Zurückkehren? In welcher Stellung?« Das war wieder ganz der alte Remigius.
Bedauernd schüttelte Philip den Kopf. »In meiner Priorei wirst du nie mehr ein Amt bekleiden, Remigius. Komm zurück als einfacher, demütiger Mönch. Bitte den Herrn um Vergebung deiner Sünden, und verbringe die Tage, die dir auf Erden noch vergönnt sind, in Gebet und Meditation. Bereite deine Seele auf den Himmel vor.«
Remigius hob empört den Kopf, und Philip war auf eine verächtliche Antwort gefasst, aber sie blieb aus. Remigius öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann schloss er ihn wieder und sah zu Boden. Still und stumm stand Philip vor ihm und wartete auf eine Reaktion. Lange Zeit gab Remigius keinen Ton von sich. Als er endlich wieder aufblickte, war sein Gesicht voller Tränen. »Ja, bitte, Vater«, sagte er. »Ich möchte wieder nach Hause.«
Glühende Freude ergriff Philip. »Dann komm!«, sagte er. »Steig auf mein Pferd!«
Remigius wusste nicht, wie ihm geschah.
» Was sagt Ihr da, Vater?«, rief Jonathan.
»Los, hinauf!«, sagte Philip zu Remigius. »Tu, was ich dir sage!«
Jonathan war entsetzt. »Aber Vater, wie wollt Ihr denn reisen?«
»Ich gehe zu Fuß«, erwiderte Philip glücklich. »Einer von uns beiden muss ja laufen.«
»So soll Remigius laufen!« Jonathan war kurz davor, aus der Haut zu fahren.
»Er soll reiten«, sagte Philip. »Er hat Gott erfreut.«
»Und Ihr? Habt Ihr Gott nicht viel mehr erfreut als Remigius?«
»Jesus sagt, es ist größere Freude im Himmel über einen bußfertigen Sünder denn über neunundneunzig Rechtschaffene«, hielt Philip dagegen. »Erinnerst du dich nicht an das Gleichnis vom verlorenen Sohn? Als er heimkehrte, schlachtete sein Vater das gemästete Kalb. Die Engel im Himmel jubeln über die Tränen, die Remigius vergießt. Ihm mein Pferd zu geben ist das Geringste, was ich tun kann.«
Er nahm das Pferd am Zügel und führte es auf die Straße zurück. Jonathan
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