Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Besitzern ihr Hab und Gut zurückerstattet werden musste, berührte nicht die Rechte des Klosters. Ihr Ziel war es vielmehr, Herzog Henry die Möglichkeit zu geben, Stephans Grafen durch seine eigenen zu ersetzen und somit die Leute, die ihn in seinem Kampf unterstützt hatten, zu belohnen. Die Klöster waren davon eindeutig nicht betroffen. Es gab also durchaus Anlass zur Zuversicht, wenngleich ein Punkt noch unklar war: Der alte Vogt war gestorben, der neue noch nicht bekannt. Seine Ernennung sollte gleich zu Beginn der Sitzung erfolgen. Vier einflussreiche Bürger von Shiring galten als Favoriten für das Amt: Der Seidenhändler David Merchant; Rees Welsh, ein Priester, der am königlichen Hof gearbeitet hatte; Glies Lionheart, ein Ritter, dessen Güter gleich vor den Toren der Stadt lagen, und Hugh Bastard, der illegitime Sohn des Bischofs von Salisbury. Philip hätte am liebsten Rees in dem Amte gesehen, nicht nur, weil er Waliser war wie er selbst, sondern weil von ihm ein offenes Ohr für die Anliegen der Kirche zu erwarten war. Große Sorgen machte er sich nicht, denn auch bei den anderen konnte mit einem günstigen Urteilsspruch gerechnet werden.
Sie ritten in den Burghof ein. Die Anlage war nicht sonderlich stark befestigt. Da der Graf von Shiring außerhalb der Stadt auf einer eigenen Burg residierte, war Shiring schon seit einigen Generationen von Kampfhandlungen verschont geblieben. Die Burg in der Stadt war mehr ein Verwaltungssitz: Hier gab es Kanzleien, Unterkünfte für den Vogt und seine Leute und nicht zuletzt auch ein Verlies. Philip und Jonathan brachten ihre Pferde in den Stall und begaben sich in den großen Saal.
Die Tische, gemeinhin in T-Form ausgerichtet, waren umgestellt worden. Der Querbalken des T befand sich an der gewohnten Stelle, wurde jedoch durch ein Podium erhöht. Die anderen Tische flankierten die Wände: Auf diese Weise wurden die Kläger räumlich voneinander getrennt und die Versuchung, das Heil im Faustrecht zu suchen, eingedämmt.
Der Saal war bereits gut gefüllt. Oben auf dem Podium saß Bischof Waleran und sah aus, als führe er Böses im Schilde. Zu Philips Überraschung saß neben ihm William Hamleigh. Er sprach mit Waleran, schielte dabei aber immer zum Eingang, um die Neuankömmlinge im Auge zu behalten. Was treibt denn der hier, fragte sich Philip betroffen. Neun Monate lang war von William so gut wie nichts zu sehen und zu hören gewesen. Er hatte sein Dorf kaum verlassen und dadurch bei vielen Menschen – darunter auch Philip – die Hoffnung genährt, er möge bis zu seinem Lebensende dortbleiben. Aber jetzt saß er dort oben am Tisch und benahm sich ganz so, als wäre er noch immer Graf von Shiring. Warum ist er hier und was hat er vor, dachte Philip. Gewiss treibt ihn die Habgier, und er plant ein übles Ränkespiel …
Philip und Jonathan ließen sich auf einer der seitwärts aufgestellten Bänke nieder und warteten auf den Beginn der Verhandlungen. Unter den Zuschauern herrschte eine geschäftige, zuversichtliche Stimmung. Der Krieg war vorüber, und die führenden Kreise im Lande wandten ihre Aufmerksamkeit wieder der Aufgabe zu, ihren Reichtum zu mehren. Das Land war fruchtbar und dankte ihnen rasch für ihre Bemühungen: Man rechnete in diesem Jahr mit einer Ernte, die alle früheren in den Schatten stellte; der Wollpreis hatte sich erholt, und Philip hatte mittlerweile fast alle Steinmetzen und Maurer, die Kingsbridge auf dem Höhepunkt der Hungersnot verlassen hatten, wieder eingestellt. Überall hatten vor allem die jungen, kräftigen und gesunden Menschen überlebt und waren jetzt voller Hoffnung und guten Mutes. Man spürte diese Stimmung im großen Saal der Burg zu Shiring allenthalben – an der Kopfhaltung der Leute, am Tonfall ihrer Stimmen, an den neuen Stiefeln der Männer, den prunkvollen Kopfbedeckungen der Frauen und nicht zuletzt daran, dass sie alle wieder Reichtümer und Güter besaßen, für die es sich lohnte, vor Gericht zu ziehen.
Alle Anwesenden erhoben sich: Der Stellvertreter des Vogts und Graf Richard betraten den Saal. Die beiden schritten die Stufen zum Podium hinauf. Dann begann der stellvertretende Vogt, noch immer stehend, den königlichen Erlass mit der Ernennung des neuen Vogts zu verlesen. Wie alle Urkunden dieser Art begann der Text mit einer wortreichen Präambel. Philip musterte die vier Favoriten. Er wünschte dem glücklichen Sieger schon jetzt viel Mut, denn es gehörte einiges dazu, dem Recht gegenüber so
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