Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
dicke Schmeißfliegen krabbelten über das Tischtuch, und zwei Wespen umsummten wütend den Honigtopf.
Und am Tisch saß Alfred.
Aliena stieß einen leisen Angstschrei aus, fing sich aber schnell wieder und fragte: »Wie kommst du hier herein?«
»Ich habe einen Schlüssel.«
Er muss ihn sehr lange aufbewahrt haben, dachte Aliena. Seine breiten Schultern waren knochig, sein Gesicht eingefallen. »Was willst du hier?«, fragte sie.
»Ich wollte dich besuchen.«
Sie spürte, dass sie zu zittern begann – nicht vor Angst, sondern vor Wut. »Ich will dich nicht mehr sehen – weder heute noch in Zukunft«, schäumte sie. »Du hast mich wie einen Hund behandelt, und als Jack dir aus Mitleid eine Stelle anbot, hast du sein Vertrauen missbraucht und all seine Handwerker nach Shiring abgeworben.«
»Ich brauche Geld«, sagte er in einer Mischung aus Flehen und Trotz.
»Dann arbeite.«
»Die Bauarbeiten in Shiring sind eingestellt worden. Und hier in Kingsbridge bekomme ich bestimmt keine Arbeit mehr.«
»Dann hau doch ab – nach London, nach Paris …«
»Ich dachte, du könntest mir aushelfen.« Er ließ nicht locker, starrsinnig wie ein Ochse.
»Hier gibt’s für dich nichts zu holen. Am besten verschwindest du jetzt.«
»Hast du denn gar kein Mitleid mit mir?« Der Trotz war verschwunden, das Flehen blieb.
Sie lehnte sich haltsuchend gegen den Tisch. »Alfred, kannst du eigentlich nicht begreifen, dass ich dich hasse ?«
»Warum?«, fragte er mit beleidigter Miene. Er wirkte geradezu überrascht.
Gott im Himmel, ist der Kerl dumm, dachte Aliena, das ist ja schon fast eine Entschuldigung. »Geh ins Kloster, und bitte um eine milde Gabe«, sagte sie müde. »Prior Philip verfügt über einen schier übermenschlichen Fundus an Nachsicht und Verständnis – im Gegensatz zu mir.«
»Aber du bist meine Frau «, sagte Alfred.
Das war der Gipfel. »Ich bin nicht deine Frau«, zischte sie. »Und du bist nicht mein Ehemann. Du warst es auch nie. So, und jetzt mach, dass du fortkommst!«
Er packte sie an den Haaren. »Du bist meine Frau!«, sagte er und zog sie am Schopf über den Tisch. Mit der freien Hand griff er an ihre Brust und drückte fest zu.
Das war das Letzte, was Aliena von ihm erwartet hätte – von einem Mann, der neun Monate lang mit ihr das Zimmer geteilt hatte und nicht ein einziges Mal imstande gewesen war, mit ihr zu schlafen. Sie schrie unwillkürlich auf und versuchte sich ihm zu entziehen, aber er hatte ihre Haare fest im Griff und zerrte sie an sich. »Deine Schreie kann keiner hören. Die Leute sind alle unten am Fluss.«
Aliena hatte auf einmal furchtbare Angst. Sie war Alfred ausgeliefert, und er war sehr kräftig. Sie hatte weite Reisen gemacht und dabei auf Hunderten von Meilen Kopf und Kragen riskiert – und nun wurde sie zu Hause von dem ihr angetrauten Mann überfallen!
Alfred sah die Furcht in ihren Augen und sagte: »Angst, was? Es wär besser für dich, wenn du ein bisschen lieb zu mir wärst.« Er küsste sie auf den Mund. Aliena biss ihn in die Lippe. Er brüllte auf vor Schmerz.
Sie sah den Fausthieb nicht kommen. Er traf ihre Wange mit solcher Wucht, dass sie fürchtete, der Knochen sei gebrochen. Ihr wurde schwarz vor Augen, sie verlor das Gleichgewicht und spürte, wie sie zu Boden stürzte. Die Binsenmatten auf dem Boden milderten den Aufprall. Sie schüttelte den Kopf, um wieder zu Sinnen zu kommen, und griff nach dem Messer an ihrem linken Arm. Doch ehe sie es hervorziehen konnte, umklammerte Alfred ihre Handgelenke und sagte: »Ich kenne den kleinen Dolch. Ich hab dir ja schon beim Ausziehen zugesehen, erinnerst du dich?« Er gab ihre Hände frei, schlug ihr noch einmal ins Gesicht und nahm die Waffe an sich.
Aliena versuchte verzweifelt, sich unter ihm hervorzuwinden. Er saß auf ihren Beinen und legte die linke Hand um ihren Hals. Aliena schlug mit den Armen um sich, bis plötzlich die Dolchspitze unmittelbar vor ihrem rechen Auge auftauchte. »Gib Ruhe, sonst stech ich dir die Augen aus«, sagte Alfred.
Sie erstarrte. Sie hatte furchtbare Angst um ihr Augenlicht. Mehrmals schon hatte sie Menschen gesehen, die zur Strafe für ein Vergehen geblendet worden waren. Sie tappten bettelnd durch die Straßen und richteten die leeren Augenhöhlen in grausiger Manier auf die Vorübergehenden. Die Gassenjungen hatten ihren Spaß mit den Blinden. Sie zwickten sie und stellten ihnen das Bein, bis die Geschundenen sich vor Wut nicht mehr zu helfen wussten und
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