Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Zähnen wieder zum Vorschein.
Sein blonder Bart war durchnässt. Im Spiel war er schon immer besser als im wahren Leben, dachte Aliena.
Sie war nicht bereit, ihn ungeschoren davonkommen zu lassen. Andere mochten sich vor ihm fürchten und lieber den Mund halten, schließlich war er der Graf … Für Aliena hingegen war er der dumme kleine Bruder, sonst gar nichts. Er kam zu ihr, um sie mit einem Kuss zu begrüßen, doch sie schob ihn unwirsch von sich und sagte: »Warum hast du der Priorei den Steinbruch gestohlen? Was ist nur in dich gefahren?«
Jack spürte, dass Streit in der Luft lag. Er nahm die Kinder bei der Hand und trollte sich.
Richard war gekränkt. »Alle Besitztümer wurden jenen zurückerstattet, die zu Zeiten …«
»Komm mir bloß nicht damit!«, unterbrach ihn Aliena. »Nach alldem, was Philip für dich getan hat!«
»Der Steinbruch ist Teil meines Geburtsrechts«, erwiderte Richard, nahm seine Schwester beiseite und sprach in leisem Ton weiter, sodass die Umstehenden ihn nicht mehr verstehen konnten. »Abgesehen davon: Ich brauche das Geld aus dem Verkauf der Steine, Allie.«
»Kein Wunder bei einem, der nichts anderes tut, als auf die Hatz und die Beizjagd zu gehen.«
»Was soll ich denn sonst tun?«
»Dafür sorgen, dass das Land wächst und gedeiht! Es gibt so viel zu tun. Die Schäden, die Krieg und Hungersnot hinterlassen haben, sind noch längst nicht alle beseitigt. Wälder müssen gerodet, Sümpfe trockengelegt und die Bauern in neuen Anbaumethoden unterwiesen werden – so mehrt man seinen Reichtum, und nicht, indem man sich einen Steinbruch unter den Nagel reißt, den der König einst der Priorei Kingsbridge zugesprochen hat!«
»Ich habe mir nie fremdes Gut angeeignet.«
»Zeit deines Lebens hast du von anderen gelebt!« Aliena war jetzt so wütend, dass sie bereit war, Dinge zu sagen, die besser ungesagt blieben. »Nie hast du dir selbst etwas erarbeitet. Deine dämlichen Waffen hast du dir von meinem Geld gekauft. Du nahmst die Stelle, die Philip dir anbot, und deine Grafschaft bekamst du zurück, weil ich sie dir gleichsam auf einem Silbertablett präsentiert habe. Und jetzt kannst du sie nicht einmal regieren, ohne dich an fremdem Eigentum zu vergreifen.« Aliena machte auf dem Absatz kehrt und stürmte davon.
Richard lief ihr hinterher, wurde aber von irgendjemandem aufgehalten, der sich vor ihm verneigte und sich nach seiner Gesundheit erkundigte. Aliena hörte noch Richards höfliche Antwort und merkte, dass er sich in ein Gespräch verwickeln ließ. Um so besser, dachte sie. Ich habe ihm meine Meinung gesagt und will mich ohnehin nicht weiter mit ihm streiten … An der Brücke blickte sie noch einmal zurück. Jemand anderer redete jetzt auf ihn ein, und er winkte ihr zu, sie möge doch auf ihn warten, er wolle mit ihr reden. Aber er war jetzt so eingekeilt in der Menge, dass er gar nicht mehr vorankam. Jack, Tommy und Sally jagten mit Stöcken einem Ball hinterher, ein lustiges Spiel im hellen Sonnenlicht. Ich bringe es nicht über mich, sie von ihrem Vater zu trennen, dachte sie, aber es geht doch nicht anders. Wie sonst kann ich je wieder ein normales Leben führen?
Aliena überquerte die Brücke und betrat die Stadt. Sie wollte eine Weile allein sein.
Sie hatte ein Haus in Winchester angemietet, ein großes Gebäude mit einem Laden zu ebener Erde, einer Wohnstube und einem Schlafzimmer im Obergeschoss sowie einem großem Lagerschuppen im Hinterhof, in dem sie ihre Stoffe unterbringen konnte. Doch je näher der Umzugstag rückte, desto weniger war ihr nach einer Abreise zumute.
Die Straßen der Stadt waren heiß und staubig, und die Luft war voller Fliegen, die in den unzähligen Dunghaufen willkommene Brutstätten fanden. Alle Läden hatten zu, und alle Haustüren waren verschlossen. Die Stadt war menschenleer. Alle tummelten sich draußen auf der Wiese.
Sie ging zu Jacks Haus. Dorthin würden auch die anderen kommen, sobald das Apfelschnappen vorüber war. Die Haustür stand offen. Aliena runzelte ärgerlich die Stirn. Wer hatte vergessen, sie abzuschließen? Zu viele Leute besaßen einen Schlüssel: sie selbst, Jack, Richard und Martha. Viel zu stehlen gab es nicht: Ihr eigenes Geld bewahrte Aliena schon seit vielen Jahren mit Zustimmung von Prior Philip in der Schatzkammer der Priorei auf. Aber das ganze Haus würde voller Fliegen sein.
Sie trat über die Schwelle. Es war dunkel und kühl. In der Mitte des Zimmers tanzte ein Fliegenschwarm in der Luft,
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