Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Aufrichtigkeit unter Beweis stellen soll, indem er mir den Friedenskuss gibt. Und dazu ist er nicht bereit.« Die Stimme des Erzbischofs veränderte sich. Die natürlichen Höhen und Tiefen der Rede verflachten. Alle Lebhaftigkeit verschwand aus seiner Miene, und er wirkte auf einmal wie ein Priester, der einer gelangweilten Gemeinde die Tugend der Selbstentsagung predigt. Philip erkannte in seinem Ausdruck den Stolz und die Hartnäckigkeit des unermüdlichen Kämpfers. »Die Verweigerung des Friedenskusses«, fuhr Thomas fort, »ist für mich ein Zeichen dafür, dass er mich nach England zurücklocken und dann von den Bedingungen des Vertrags abrücken will.«
Philip nickte. Der Friedenskuss, der zum Ritual der Messe gehörte, war das Symbol des Vertrauens. Ohne ihn war kein Vertragswerk, vom Ehekontrakt bis zum Waffenstillstandsabkommen, vollständig. »Was kann ich tun?«, sagte er, und die Frage war ebenso an Thomas wie an sich selbst gerichtet.
»Kehrt zurück nach England, und werbt für mich und meine Sache«, antwortete der Erzbischof. »Schreibt Briefe an Eure Priorkollegen und an die Äbte. Schickt eine Delegation aus Kingsbridge zum Papst. Richtet eine Petition an den König. Predigt in Eurer berühmten Kathedrale, dass der höchste Priester des Landes vom König verstoßen worden ist.«
Philip nickte, obwohl er genau wusste, dass er nichts von alledem tun würde. Thomas forderte ihn unverblümt auf, sich der Opposition gegen den König anzuschließen. Das mochte der erzbischöflichen Kampfmoral Auftrieb geben, brachte aber für Kingsbridge überhaupt nichts.
Philip hatte eine bessere Idee. Wenn Heinrich und Thomas sich schon so nahegekommen waren, fehlte vielleicht nicht mehr viel, um sie endgültig zusammenzubringen. Darin liegt vielleicht eine kleine Chance, dachte Philip und war auf einmal wieder recht zuversichtlich. Es war ein Strohhalm, an den er sich klammerte, aber er hatte nichts zu verlieren.
Schließlich stritten sich die beiden nur noch um einen Kuss.
Philip erschrak, als er sah, wie sehr sein Bruder gealtert war.
Francis’ Haar war ergraut; er hatte ledrige Tränensäcke unter den Augen, und seine Gesichtshaut wirkte ausgetrocknet. Freilich war auch er inzwischen sechzig Jahre alt, und so durfte sein Aussehen wohl nicht allzu sehr überraschen. Zudem waren seine Augen klar und heiter. Philip merkte, dass es sein eigenes Alter war, das ihn so bestürzt hatte. So erging es ihm immer, wenn er seinen Bruder nach längerer Zeit wiedersah. Schon seit Jahren hatte Philip keinen Spiegel mehr zur Hand gehabt. Habe auch ich solche Tränensäcke, fragte er sich und tastete mit den Fingern über sein Gesicht. Die Frage ließ sich kaum beantworten.
»Nun, wie schmeckt die Arbeit bei Heinrich?«, fragte Philip neugierig. Es gab niemanden, der nicht gerne erfahren hätte, wie es bei Königen privat zuging.
»Besser als bei Mathilde«, erwiderte Francis. »Sie war klüger, aber zu unaufrichtig. Heinrich ist sehr offen. Man erkennt immer gleich, woran man ist.«
Sie saßen im Kreuzgang des Klosters von Bayeux, in dem Philip untergekommen war. Der königliche Hof war in der Nähe einquartiert. Francis arbeitete seit über zwanzig Jahren für Heinrich. Er war inzwischen Leiter der Kanzlei, also jenes Amtes, dem die Ausfertigung aller königlichen Briefe und Urkunden oblag. Es war eine bedeutende Stellung mit großer Machtvollkommenheit.
»Offen?«, fragte Philip. »Heinrich? Erzbischof Thomas ist da anderer Meinung.«
»Schon wieder so eine krasse Fehleinschätzung des Herrn Erzbischofs!«, sagte Francis geringschätzig.
Philip war mit dieser verächtlichen Rede über den Erzbischof nicht einverstanden. »Thomas ist ein großer Mann«, sagte er.
»Thomas will Englands König sein«, gab Francis gereizt zurück.
»Und Heinrich anscheinend Erzbischof von Canterbury«, konterte Philip.
Erbost starrten sie einander in die Augen. Wenn wir uns schon streiten, dachte Philip, dann darf uns die bittere Auseinandersetzung zwischen Heinrich und Thomas nicht länger wundern. Er lächelte und sagte: »Nun, wir beide sollten uns darüber nicht den Schädel einschlagen.«
Francis’ Miene entspannte sich. »Nein, natürlich nicht. Aber du darfst nicht vergessen, dass ich mich jetzt schon seit sechs Jahren mit diesem Streit herumquäle. Ich kann das nicht mehr so unvoreingenommen sehen wie du.«
Philip nickte. »Aber warum ist Heinrich nicht bereit, den Friedensvertrag des Papstes zu akzeptieren?«
»Er ist
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