Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
angehaltenem Atem zu.
Die beiden unterhielten sich mehrere Stunden lang.
Niemand konnte verstehen, was sie im Einzelnen sagten, doch jeder konnte es ahnen. Sie sprachen über Heinrichs Attacken gegen die Kirche, den Ungehorsam der englischen Bischöfe gegenüber Thomas, die umstrittenen Konstitutionen von Clarendon, die Exilzeit des Erzbischofs, die Rolle des Papstes … Anfangs hatte Philip befürchtet, sie könnten in Streit geraten und in größerer Feindschaft denn je auseinandergehen. Schon einmal hatten sie kurz vor einer Vereinbarung gestanden und sich unter ähnlichen Bedingungen getroffen … Bei irgendeinem Punkt waren sie sich uneinig gewesen, hatten sich in ihrem Stolz verletzt gefühlt; es war zu harten Worten gekommen, und schließlich waren sie davongestürmt und hatten einander Kompromisslosigkeit vorgeworfen.
Doch diesmal war es anders. Je länger die Unterredung dauerte, desto mehr wuchs Philips Zuversicht. Wenn einer von beiden es auf einen Eklat abgesehen hätte, so war der geeignete Zeitpunkt dafür längst verstrichen.
Der heiße Sommernachmittag kühlte langsam ab, und die Schatten der Ulmen über dem Fluss wurden immer länger. Die Spannung war unerträglich.
Da endlich geschah etwas. Thomas bewegte sich.
Wollte er fortreiten? Nein. Er stieg vom Pferd. Was hat das zu bedeuten, fragte sich Philip und hielt den Atem an. Thomas ging auf Heinrich zu und fiel vor den Füßen des Königs auf die Knie.
Nun saß auch der König ab. Er schloss Thomas in die Arme.
Die Höflinge auf beiden Seiten brachen in Jubel aus und warfen ihre Hüte in die Luft.
Philip traten die Tränen in die Augen. Der Streit war beigelegt – durch Vernunft und guten Willen. So sollte es sein.
Vielleicht war es ein Omen für die Zukunft.
+++
Es war Weihnachten, und der König tobte vor Wut.
William Hamleigh fürchtete sich. Er hatte bisher nur einen Menschen von vergleichbarem Temperament gekannt, und das war seine Mutter. König Heinrich in seinem Zorn war fast genauso furchterregend wie sie.
Schon von Natur aus war er eine respektheischende Persönlichkeit, mit seinen breiten Schultern, dem mächtigen Brustkorb und dem unverhältnismäßig großen Kopf. Geriet er jedoch in Rage, so färbte sich sein sommersprossiges Gesicht tiefrot, und die blaugrauen Augen zeigten sich plötzlich blutunterlaufen. Wie ein wütender Bär in Gefangenschaft schritt der ohnehin rastlose Mann im Zimmer auf und ab.
Sie befanden sich in Bur-le-Roi, einer Jagdhütte des Königs in einem weitläufigen Park unweit der normannischen Küste. Eigentlich hätte Heinrich hier glücklich sein müssen, liebte er doch die Jagd über alles. Aber er war nicht glücklich. Er tobte vor Wut. Und die Ursache seines Zorns war Erzbischof Thomas von Canterbury.
»Thomas, Thomas, Thomas! Ich höre nur noch Thomas von Euch verteufelten Prälaten! Thomas tut dies, Thomas tut das, Thomas hat Euch beleidigt, Thomas hat Euch ungerecht behandelt! Mir reicht’s jetzt, endgültig!«
William musterte verstohlen die Gesichter der Grafen, Bischöfe und anderen Würdenträger, die um die festlich gedeckte Weihnachtstafel versammelt waren. Die meisten fühlten sich sichtlich unwohl in ihrer Haut. Nur einer wirkte rundum zufrieden: Waleran Bigod.
Waleran hatte vorausgesagt, dass Heinrich und Thomas schon bald wieder aneinandergeraten würden. Der Sieg des Erzbischofs sei zu deutlich ausgefallen, meinte er. Der Friedensplan des Papstes habe dem König zu viele Zugeständnisse abverlangt; die Einforderung der königlichen Versprechen durch Thomas müsse zwangsläufig zu neuen Auseinandersetzungen führen. Waleran hatte sich freilich nicht damit begnügt, den Lauf der Dinge abzuwarten, sondern nach Kräften dazu beigetragen, dass seine Prophezeiungen sich auch erfüllten. Mit Williams Hilfe hatte er dafür gesorgt, dass dem König eine unablässige Flut von Beschwerden vorgelegt wurde, die allesamt Thomas Beckets Verhalten seit seiner Rückkehr nach England zum Inhalt hatten: Es hieß, er ziehe mit einer Ritterschar durchs Land, suche seine Spießgesellen auf und hecke ein Komplott nach dem anderen aus; auch nehme er Rache an Klerikern, die während seines Exils den König unterstützt hätten. Waleran schmückte diese Berichte aus, bevor er sie an den König weitergab, doch enthielten sie alle ein Körnchen Wahrheit. Waleran blies damit Wind in ein schon loderndes Feuer. All jene, die sich während des sechsjährigen Streits von Thomas losgesagt hatten und nun
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