Die Säulen der Schöpfung - 13
waren nicht nur Worte, die sie kannte, Jennsen merkte auch, daß die Stimme in ihrem Kopf die Worte gemeinsam mit den Schwestern intonierte. Die Stimme wiederzuhaben, hatte etwas gleichermaßen Beängstigendes wie Tröstliches, denn das beklemmende Angstgefühl nach dem Verstummen der Stimme war unerträglich gewesen.
» Tu vash misht Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht. «
Das Geräusch des Sprechgesangs hatte eine beruhigende und im weiteren Verlauf auch schläfrig machende Wirkung auf Jennsen. Sie mußte daran denken, was alles dazu geführt hatte, daß sie sich jetzt an diesem Punkt befand, an den Alptraum, aus dem ihr ganzes Leben bestanden hatte, von jenem Zeitpunkt an, als sie im Alter von sechs Jahren mit ihrer Mutter aus dem Palast des Volkes geflohen war, bis hin zu den unzähligen Malen, da Lord Rahls Soldaten ihnen ganz nahe gekommen waren und sie nur mit knapper Not entkommen konnten, bis hin zu der fürchterlichen Regennacht als die Männer Lord Rahls in ihr Haus eingedrungen waren. Jennsen spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, sobald sie an den Tod ihrer Mutter auf dem blutverschmierten Fußboden dachte. Der entsetzliche Schmerz ließ sie gequält aufschreien.
» Tu vash misht. Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht.«
Tränenüberströmt schüttelte sich Jennsen unter heftigem Schluchzen. Ihre Mutter fehlte ihr; sie hatte Angst um Sebastian. Sie fühlte sich so entsetzlich allein in der Welt. Sie hatte so viele Menschen sterben sehen, das alles sollte endlich ein Ende haben.
» Tu vash misht. Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht. «
Als sie den Blick hob, gewahrte sie etwas Dunkles auf dem Augenblicke zuvor noch unbesetzten Platz genau vor ihr. Die Augen dieses Etwas glänzten im Schein der Kerzen. Als Jennsen in diese Augen starrte, war es, als sähe sie die Stimme selbst vor sich.
»Tu vash misht. Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht«. sprach die Stimme vor ihr und in ihrem Kopf in leise knurrendem Tonfall. »Öffne dich für mich, Jennsen. Öffne dich für mich, Jennsen.«
Gefangen in dem feurigen, durchbohrenden Blick aus diesen Augen war Jennsen wie gelähmt. Es war die Stimme, nur befand sie sich diesmal nicht in ihrem Kopf. Es war die Stimme unmittelbar vor ihr.
Hinter ihr verstreute Schwester Perdita abermals ihren Staub, und als er sich diesmal entzündete, beleuchtete er die Person, die dort mit feurig glühenden Augen vor ihr hockte.
Es war ihre Mutter.
»Jennsen«, girrte ihre Mutter. »Gib dich hin.«
»Was?«, wimmerte Jennsen, zu Tode erschrocken.
»Gib dich hin.«
Jetzt brachen alle Dämme, und ihre Tränen ergossen sich in einem einzigen, unkontrollierbaren Sturzbach. »Mama! Oh. Mama!«
Jennsen machte Anstalten, sich zu erheben, machte Anstalten, auf ihre Mutter zuzugehen, doch Schwester Perdita drückte sie an den Schultern wieder hinunter auf ihren Platz.
Als die wogenden Flammen gen Himmel stiegen und erloschen, als das Licht verblaßte, verschmolz ihre Mutter mit der Dunkelheit, und vor ihr saß wieder dieses Etwas mit den glühenden Kerzenaugen.
»Grushdeva du kalt misht«, knurrte die Stimme.
»Was?«, wimmerte Jennsen.
»Rache geschieht durch mich«, übersetzte die Stimme knurrend.
»Surangie, Jennsen. Gib dich auf, und dein wird die Rache sein.« »Ja!«, schrie Jennsen in ihrer untröstlichen Qual. »Ja, ich werde mich ganz der Rache hingeben!«
Als das Etwas daraufhin grinste, war es, als täte sich ein Tor zur Unterwelt auf.
Es erhob sich, ein flirrender Schatten, und beugte sich zu ihr vor. Das Mondlicht glänzte auf seinen knotigen Muskeln, als es sich streckte und fast wie eine Katze lächelnd auf sie zukam und ihr dabei seine Reißer zeigte, bei deren Anblick einem das Herz stehen blieb.
Jennsen war mittlerweile völlig hilflos und wußte nur noch eins,
Sie war mit ihrer Kraft am Ende und wollte, daß es aufhörte, denn sie ertrug es einfach nicht mehr länger. Sie wollte Richard Rahl töten; sie wollte Rache. Und sie wollte ihre Mutter wiederhaben. Das Wesen stand genau vor ihr, ein unbestimmtes Etwas aus schimmernder Kraft und Form; es war da und doch auch nicht, teils in dieser Welt und teils in einer anderen.
In diesem Moment bemerkte Jennsen jenseits des Wesens, jenseits der Schwestern und des glitzernden weißen Sandes und der Kerzen riesige Gestalten draußen in den Schatten – vierbeinige Gestalten.
Es waren Hunderte, mit Augen, die sämtlich gelb im Dunkeln leuchteten, und dampfendem Atem vor ihren knurrenden
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