Die Saga vom Eisvolk 02 - Hexenjagd
öde.
Eigentlich bist du nicht häßlich.
Niemand hat je zuvor gewagt, einem der gefürchteten Männer des Hexengerichts so etwas ins Gesicht zu sagen.
Die Worte strahlten eine so merkwürdige Wärme aus.
Fast ebenso stark wie der Scheiterhaufen.
Am nächsten Morgen bestand er darauf aufzustehen. Mit gekünstelt steifen und wehen Gliedern stolperte er auf den Hof hinaus.
Dort traf ihn ein unerwarteter Anblick. Der ganze Hofplatz war voller Leute. Einige waren einfach, aber gut angezogen, doch die meisten waren offenbar sehr arm und gingen in Lumpen. Nur hier und dort stachen ein paar besonders vornehm gekleidete Leute aus der Menge heraus.
Silje trat hinter ihm aus der Tür.
»Was ist passiert?« fragte er schockiert.
»Passiert? Wieso?«
»All diese Menschen!«
»Ach, die. Es kommen jeden Tag so viele. Sie wollen zu meinem Mann, damit er ihnen hilft.«
»Aber ich habe gedacht, daß er nur Angehörige der oberen Stände kuriert?«
»Nein, sie machen nur einen kleinen Teil seiner Arbeit aus. Diese hier sind seine eigentlichen Schützlinge.«
»Aber er kann doch kaum für alle Zeit haben?«
»Er versucht es, Herr Johan«, sagte Silje müde. »Er tut alles, um zu helfen, und ich mache mir wirklich Sorgen um ihn. Er reibt sich auf.«
Ja, Johan erinnerte sich an Tengels Gesicht, an die Augen, die vor Ermattung zu brennen schienen, als wären sie voller Sand.
»Aber ist er denn nicht ein wohlhabender Arzt? Warum kümmert er sich um die hier? An denen kann er doch nichts verdienen!«
»Tengel verlangt nie etwas von ihnen. Trotzdem bringen sie mit, was sie haben - ein Ei, einen geflochtenen Korb, ein Bündel Reisig aus dem Wald… Sie wollen gerne bezahlen, wißt Ihr. Sich den kleinen Rest Würde bewahren, den sie noch haben.«
Johan sah auf einmal hinein in eine neue Welt, eine, von der er nichts gewußt hatte.
Aber er hatte keine Zeit für solche Gedanken. Es handelte sich schließlich um Teufelswerk. Und das Gericht verlangte, daß er seine Aufgabe erledigte.
»Frau Silje, ich würde mich gern Eurem Mann anschließen, wenn er morgen zur Kirche geht, falls er nichts dagegen hat«, sagte er listig.
Ein rasches, wehmütiges Lächeln glitt um ihre Mundwinkel. »Ihr könnt Euch uns gerne anschließen, aber mein Mann kommt nicht mit.«
»Warum nicht?«
»Aber versteht Ihr denn nicht? Ich will, daß er am Leben bleibt. All diese Heilungen rauben ihm die Kräfte, sie strömen durch seine Hände hinaus, wenn er sie den Leuten auf die kranken Körperteile legt. Besonders hart nimmt es ihn mit, wenn seine Heilkraft versagt - denn das geschieht hin und wieder auch. Und er muß ständig darauf achten, daß sein Vorrat an Kräutern ausreicht, oftmals ist es schwierig, neue Kräuter zu beschaffen, besonders im Winter. Und deshalb, versteht ihr, sorge ich dafür, daß er am Feiertag im Bett bleibt - und dann schläft er den ganzen Sonntag durch wie ein Toter. Ich finde es wichtiger, daß er seine Kräfte schont, um diese unglücklichen Menschen gesund zu machen, als daß er in der Kirche sitzt und schläft.«
»Aber dann hört er ja gar nicht das Wort Gottes! Er bleibt außenvor.«
»Das glaube ich nicht. Es gibt auch noch einen anderen Grund dafür, daß Tengel nicht in die Kirche geht. Einmal wollte er so gerne dabei sein - das war, als wir noch oben im Norden wohnten - aber man ließ ihn nicht herein, weil die Leute behaupteten, er sei des Teufels. Und das nur wegen seines Aussehens, für das er ja nun wirklich nichts kann! So etwas tut weh, Herr Johan! Ich glaube, Tengel hat Angst, erneut abgewiesen zu werden. Aber er und Sol haben ihre eigene Art, die Messe zu feiern. Sie gehen allein hinaus in die Natur und sprechen dort direkt mit Gott. Sie finden nicht, daß die Priesterschaft ein wichtiges Zwischenglied ist, Oftmals kann sie sogar zum Nachteil sein.«
»Sowas habe ich ja noch nie gehört! Das Mädchen geht also auch nicht in die Kirche?«
»Nein, sie hat ein hitziges Gemüt. Wir möchten sie am liebsten von den großen Versammlungen fernhalten.«
»Wollt ihr damit sagen, sie ist besessen? Von einem bösen Geist?«
»Sol?« Silje lachte. »Nein. Aber sie ist eine sehr selbständige und lebhafte junge Dame, die das macht, was ihr gerade in den Sinn kommt. Ihre Kommentare während des Gottesdienstes würden sehr störend wirken.«
Silje bat insgeheim um Vergebung. Sie hatte die Wahrheit gesagt, als sie von Tengel erzählte, sie wußte, daß er ein inniges und enges Verhältnis zu seinem Gott
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