Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
keine Widerstandskraft. Sie starb in Tengels Armen. Das letzte, was sie kaum hörbar wisperte, war:
»Dag?« »Er schafft es. Er ist stark.« »Gott sei Dank! Und Jacob?«
»Ich weiß es nicht, Charlotte. Ich fürchte, ihm geht es nicht so gut.«
Da nickte sie nur. »Sorge für meine Lieben, Tengel!« »Du weißt, daß ich das tun werde«, sagte er bewegt. »Danke für eine lange Freundschaft«, flüsterte sie. »Ich danke dir, Charlotte!« Sie lächelte, »Tengel, der Gute«, hauchte sie. Dann war es vorbei.
Drei Stunden später folgte Jacob Skille seiner Frau. Liv saß die ganze Zeit bei Dag, verließ ihn keine Sekunde lang. Und es sah wirklich so aus, als würde er die Blutseuche besiegen.
Silje… dachte Tengel, als er unendlich sorgenvoll Grästensholm verließ. Silje ist keine vom Eisvolk. Die kleine Meta auch nicht. Sie haben nicht unsere Widerstandskraft gegen die Krankheit.
Aber noch war die Seuche nicht bis nach Lindenallee gekommen…
Und das tat sie auch weiterhin nicht. Sie erlosch und verschwand, und niemand im Kirchspiel, niemand im ganzen Lehen Akershus war der Seuche so unbeschadet entkommen wie all jene Menschen, die in der Obhut von Lindenallee standen.
Eikeby blieb unangetastet. Ein wenig lästerlich dachte Tengel, daß eine gewisse Auslese dem Häuslerhof auch nicht geschadet hätte, aber das waren häßliche Gedanken, die er sogleich bereute. Und Klaus durfte verwundert feststellen, daß die Pest an seinem Haus vorbeigegangen war. Da umarmte er all seine Lieben und weinte vor Glück.
Eine der letzten Aufgaben Tengels im Zusammenhang mit den Schrecken der Blutseuche war der Versuch, Yrja und den jungen Vikar zu retten. Sie hatten allzu lange allein bleiben müssen. Als er an Yrjas Bett saß und den unförmigen, mißgestalteten Körper entkleidete, da dachte er, wie merkwürdig es doch war, daß eine so reine, schöne Seele sich Unterkunft in einem so unwürdigen Körper gesucht hatte. Sie hatte O-Beine, zwischen die ein Mühlstein gepaßt hätte, das Rückgrat war verbogen wie ein S, und Hüften und Brustkorb schienen direkt ineinander überzugehen, ohne die geringste Andeutung einer Taille. Aber sie lächelte ihn schüchtern an, als bitte sie um Verzeihung für ihr Aussehen und ihre würdelose Situation. Tengel lächelte aufmunternd zurück.
Sie überlebten es beide, Yrja und der Vikar, und das war das größte aller Wunder. Aber so launenhaft war das Schicksal, daß der Pastor, der nur in aller Eile seinen Segen über den Gräbern gesprochen und sich ansonsten nicht gezeigt hatte, vom unbarmherzigen Griff der Pest gepackt und dahingerafft wurde. Ohne noch ein Wort zu verlieren von wegen »Strafe für die Gottlosen«.
Das war das letzte Mal, daß die Totenglocke erklang. Anschließend konnte der Glöckner zum Freudengebet läuten. Die Pest war besiegt.
5. KAPITEL
Das Kirchspiel vermißte seinen Hirten. Aber der Kirchenrat bat den fast fertig ausgebildeten Vikar, die Gemeinde zu übernehmen. Er hatte während der Pest selbstlose Arbeit geleistet, und das wußte man zu schätzen. Der Bischof reiste an und weihte ihn, und alle waren es zufrieden. Einen besseren Pastor konnte sich niemand wünschen.
Und eines Tages versammelten sich die Bewohner der Siedlung und machten sich auf den Weg nach Lindenallee, mit einem Geschenk für Tengel. Es war eine Bibel, für die der Vikar Geld gesammelt und geholfen hatte, sie zu kaufen. Tengel holte Yrja und Tarjei an seine Seite, als er tief gerührt die Auszeichnung in Empfang nahm. Insgeheim fragte er sich, ob das Geschenk wohl eine besondere Bedeutung hatte. Wollten sie ihm vielleicht einen Wink geben, daß er seine verirrten Gedanken auf den richtigen Kurs bringen sollte? Oder war es als Fürsorge für seine Seele gemeint? Oder bedeutete es ganz einfach, daß sie ihm das Kostbarste geben wollten, das sie besaßen?
Tengel tippte auf letzteres, wie er dort stand, mit festem Griff um Yrjas magere Schultern. Sie schaffte es noch nicht ganz, richtig sicher auf eigenen Füßen zu stehen. Der Gemeindeälteste dankte ihnen für ihren aufopfernden Mut und das Wunder, zu dem sie beigetragen hatten, und der Vikar - der zu dem Zeitpunkt noch kein geweihter Geistlicher war - wurde ebenfalls gewürdigt und erhielt seinen Anteil an der Ehrung. Tengel erzählte von den Ideen seines Enkels Tarjei, die sich als Schritt in die richtige Richtung erwiesen hatten. Silje trocknete sich die ganze Zeit die Augen und war so stolz, so stolz auf sie alle - es war eine
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