Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
werden nicht frei sein, bevor dieser Kessel ausgegraben wird. Ob wir also an die Sage glauben oder nicht, es ist doch eine Tatsache: Hin und wieder werden wir böse Exemplare des Menschengeschlechts in unseren Reihen finden.«
Tarjei unterbrach ihn. »Hieß es nicht auch, daß in unserer Sippe einer geboren wird, der mehr von übernatürlichen Dingen versteht als irgend jemand sonst auf der Welt?« »Ja, das stimmt. Aber dieser Mensch ist bisher nicht geboren! Wir wissen also, daß das Erbe nicht nur vom Bösen geprägt ist. Es hat uns weitreichende Kenntnisse von verborgenen Dingen gebracht. Und einen großen Vorrat an uralten Rezepten. Die habe ich an Tarjei weitergegeben, denn er ist derjenige unter euch, der diesen Schatz am besten verwalten kann. Nun, die einzigen Nachkommen des bösen Tengel in gerader Linie sitzen hier in diesem Raum. Das bin ich selbst, und das sind Liv, Are, Sunniva…«
Das Mädchen zuckte zusammen und erwachte aus der Bewunderung für Tarald.
Liv sagte rasch: »Ihr vergeßt Cecilie, Vater. Sie ist nicht hier.«
»Nein, da hast du recht. Ich werde wohl langsam senil.« Aber damit war nun niemand einverstanden!
Tengel fuhr fort: »Gut, also ich, Liv, Are, Sunniva, Cecilie und Tarald - und dann Ares drei kleine Rabauken, Tarjei, Trond und Brand.«
Die drei Knaben erstrahlten, als sie ihre Namen hörten. Sie saßen hübsch ordentlich und gerade auf der Bank, unter der strengen Aufsicht von Meta. Sie vergötterten ihren Großvater.
»Das sind neun Personen«, sagte Tengel. »Neun Menschen, die dieses schreckliche Erbe in sich tragen. Ihr könnt euch glücklich schätzen, daß das Böse euch nicht innewohnt. Und wir alle hoffen, daß diese bösen Erbanlagen möglichst bald dahinsterben. Wenn es nur so einfach wäre!«
Alle spürten, daß Tengel jetzt zum Kern der Sache kam. »Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um das böse Erbe auszurotten. Und das bedeutet, daß wir unserer Sippe ständig neues Blut zuführen müssen. Als ich jung war, habe ich selbst versucht, das Erbe zu besiegen, indem ich nicht heiratete. Aber ich fand schnell heraus, daß dies ein allzu unmenschlicher Weg war, und etwas in der Art will ich euch nicht zumuten. Ich heiratete Silje, die nichts mit der Sippe zu tun hatte. Liv heiratete Dag, der ebenfalls überhaupt nicht mit uns verwandt war, obwohl er in unserer Familie aufwuchs. Und Are wählte sich Meta, die sogar aus dem schwedischen Schonen stammt. Also, meine Enkelkinder, ich bitte und befehle euch: Was ihr auch immer tut, heiratet nicht innerhalb der Sippe! Das könnte katastrophale Folgen haben! Und gebt dieses Verbot weiter an eure Kinder und Kindeskinder!«
Taralds klares, vornehmes Gesicht war kreidebleich geworden, und Sunniva brach in Tränen aus.
»Großvater«, platze es aus Tarald hervor. »Nun, wo Ihr wieder gesund geworden seid, hatte ich vorgehabt, Euch um eine Ausnahme von dieser Regel zu bitten. Ich hatte geplant, Euch aufzusuchen und Großmutter und Mutter und Vater. Aber Ihr seid mir zuvorgekommen. Ich will Sunniva heiraten.«
»Das geht nicht«, sagte Tengel scharf wie ein Peitschenknall. »Dann will ich überhaupt keine heiraten!«
Ach Tarald! jammerte Silje insgeheim. Siehst du denn nicht, wie sehr du Yrja verletzt? Bist du so vollkommen blind, du egoistischer Klotz!
Aber Tarald hatte Yrja noch niemals mit diesen Augen gesehen.
Yrja saß da und wrang die Hände in ihrem Schoß. Laßt mich doch gehen, dachte sie verzweifelt. Laßt mich fort, ich überleb das hier nicht!
Tengel blickte wehmütig zu Tarald. »Du bist noch so jung mein Kind. Du wirst deine Meinung noch oft ändern. Sunniva ist die Tochter Sols, die Enkelin meiner Schwester, und viel enger verwandt mit dir, um dich, meinen Enkel, zu heiraten. Das siehst doch wohl ein? Vergeßt einander, bevor es zu spät ist, das ist meine inständige Bitte an euch.« Beinahe lautlos stieß der leichenblasse Tarald hervor: »Es ist bereits zu spät.«
Der Raum erzitterte unter dem Geraune der Erwachsenen. Tengel holte unheilverkündend tief Atem »Nicht, Tengel!« warnte Silje.
Niemand außer ihr hatte seinen Zorn bemerkt. Nun brach er hervor mit furchteinflößender Gewalt. Er ging auf Tarald zu und stieß Silje beiseite, die sich dazwischenwerfen wollte, Sunniva schrie auf vor Angst und versteckte sich hinter Dag. Tengel hatte den zu Tode erschrockenen Tarald ergriffen und schüttelte ihn wie ein Bündel leeres Stroh.
»Was hast du getan, du Lump? Was hast du getan?«
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