Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
morgen begleiten und uns helfen. Viele haben nach Euch gefragt.« »Tatsächlich? Nun, das ist ja die heilige Berufung eines geistlichen Hirten. Wie ist die Situation?«
»Schlecht bei den Leuten vom Schwarzmoor-Hof. Die anderen werden es vielleicht etwas besser überstehen.« »Wird sich die Krankheit ausbreiten?«
»Ganz sicher. Euer Diener hat sich ja auch angesteckt, zum Beispiel. Aber wir haben alles getan, um es zu verhindern.« »Welche Geißel des Herrn! Was haben meine armen Schäfchen nur getan, daß sie so gestraft werden?«
»Nichts«, sagte Tengel kurz. »So etwas passiert nun einmal im Leben.«
»Nicht ohne Grund«, sagte der Pastor recht scharf. »Gottlosigkeit, Herr Tengel! Das ist die Antwort! Die Peitsche des Herrn züchtigt die Gottlosen.«
»Ja, morgen werden wir einen Säugling begraben«, antwortete Tengel, und Tarjei, der ihn kannte, hörte den unterdrückten Zorn in seiner Stimme. Der Pastor ging schnell wieder hinaus.
Er kam am folgenden Morgen nicht mit, aber das hatte auch keiner der drei erwartet. Statt dessen hatte er seinen jungen Vikar geschickt, einen künftigen Pastor, der dafür, daß er im Sommer einfachere kirchliche Handlungen für den Amtsinhaber übernahm, im Winter studieren durfte. Der Vikar war ein umgänglicher junger Mann mit dem rechten Glauben, und er bewegte sich furchtlos zwischen den Kranken und nahm sich ihrer seelischen Nöte an, während die anderen sich um die körperlichen Leiden kümmerten.
Yrja war ruhiger und gelassener an diesem Tag. Sie hatte lange wach gelegen in dem kleinen, fremden Haus und auf die gleichmäßigen Atemzüge von Herrn Tengel und Tarjei gelauscht. Wie anders doch alles daheim auf Eikeby war! Wie schön - wenn auch ein wenig einsam - war es doch, ein Bett ganz für sich allein zu haben! Sie mochte die beiden so sehr, den alten, stolzen Mann und den Jungen mit dem klaren, scharfen Verstand. Die Freundschaft zu den beiden wog ein Gutteil der Leere in ihrem Herzen auf - den Raum, den sie so gerne mit Freude darüber angefüllt hätte, daß es Tarald gab. Aber das würde niemals geschehen. Statt dessen fühlte sie nur eine andauernde Verzweiflung darüber, daß sie nicht anders konnte, als ihn immer vor sich zu sehen. Und sich nach ihm zu sehnen. Ach, das Leben konnte so grausam sein!
Jetzt, am hellichten Tag, lagen all diese Gedanken zum Glück in weiter Ferne. Die vier arbeiteten ausgezeichnet zusammen. Zwei der Kranken auf dem Schwarzmoor-Hof waren in der Nacht gestorben, darunter das kleine Kind, wie Tengel es vorhergesagt hatte. Aber für die anderen bestand Hoffnung; ein Junge war sogar schon wieder auf den Beinen. An diesem Tag machten sie das Wohnhaus sauber. Aber gegen Mittag erreichte sie die Nachricht, die sie befürchtet hatten: Noch ein Hof war betroffen.
Sie schrubbten sich gerade sauber nach der schmutzigen Arbeit drinnen im Haus. Yrja fühlte sich unwohl und wünschte sich viele Meilen weit fort, aber sie war fest entschlossen, durchzuhalten. Die anderen schafften es ja schließlich - also mußte sie es wohl auch können, dachte sie, ohne zu ahnen, daß die anderen drei ganz genau dasselbe dachten.
»Wenn wir nur früher von der Krankheit erfahren hätten«, murmelte Tengel ärgerlich und zog sein Hemd wieder an. »Dann hätten wir mehr Leute retten und die widerliche Seuche stoppen können, bevor sie sich ausbreitet. Jetzt kommt!«
Yrja, die seine phantastischen Schultern und die behaarte Brust zum ersten Mal sah, erwachte aus ihrer Faszination. Ihr schien es unfaßbar, daß Silje etwas so Tierisches liebkosen konnte - aber trotzdem wurde sie überwältigt von einer heftigen Wehmut, die sie nicht verstand. Oder war es, weil ihr schien, daß alles so gut harmonierte? Daß zwei Menschen so gut zusammenpassen konnten, daß eine so furchteinflößende Gestalt wie Tengel Liebe und Geborgenheit bei einer so schönen und warmherzigen Frau gefunden hatte? Würde sie selbst jemals einen Mann finden, der sie trotz all ihrer Mängel liebte? Nein, das konnte sie natürlich nicht erwarten! Die Männer hatten es ja leichter, zu wählen, und deshalb nahmen sie nur die schönsten Mädchen. Sie war doch ein Niemand!
Sie machten sich eilig auf den Weg zu dem neuen Hof, und vermutlich gelang es ihnen, viele Todesfälle zu verhindern. In dieser Nacht schlief auch der Vikar bei ihnen im Haus. Sie richteten eine kleine Abseite für Yrja ein, indem sie eine Decke an einem Seil durchs Zimmer spannten. Alles ganz ehrbar also. Bei Tengel und
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