Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
tüchtige Pastorenfrau, besuchte die Kranken, sorgte tatkräftig für Hilfe bei denen, die allein nicht zurecht kamen, und wenn die Verhältnisse besonders elend waren, hatte sie immer ein kleines Almosen übrig. Sie schonte sich nicht, und ihr liebreizendes Lächeln war weithin bekannt.
Der Pfarrer gab sich einen Ruck. »Verzeiht, ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. Was hast du gesagt, Yrja?« »Ich sagte nur, daß eine gute Pastorin …« »Ach ja, das war es. Ja, niemand hat ein besseres Herz als Julie. Ich habe wahrhaftig Glück, daß ich sie bekommen habe.« Seine Augen strahlten begeistert. Yrja schüttelte den Kopf als müßte sie ihre Gedanken ordnen. Woran mochte der Pastor gedacht haben? Der Tag war grau und trostlos, der Regen hatte die Erde völlig durchweicht. Tarald wandte sich wieder der Krypta zu und zupfte ein wenig Unkraut vor dem Eingang. Der Pastor sagte leise: »Es tut gut, solch innige Liebe zu sehen, Herr Tarald.«
Der junge Mann sah ihn mit einem sonderbaren Blick an, sagte aber nichts.
»Und du hast Blumen für Großmutter Siljes Grab gepflückt?« sagte er zu Yrja gewandt. »Ja, ich… ach, die habe ich ganz vergessen!« Sie sah unglücklich auf die halb verwelkten Gänseblümchen und zerdrückten Glockenblumen in ihrer Hand.
»Stell sie nur gleich ins Wasser, dann erholen sie sich wieder«,sagte der Pastor.
Das tat Yrja und stellte den Krug zwischen die überquellende Blumenpracht auf Siljes und Tengels Grab. Kerzen hatten dort auch gestanden, wie Yrja sehen konnte. Ach ja, neulich war ja Sankt-Olavs-Tag gewesen, und jemand hatte wohl ein Zeichen für den Feiertag setzen wollen.
»Sie wurden wahrhaftig sehr geliebt«, sagte der Pastor, als sie die Grabstätte zu dritt verließen und zur Pforte gingen. »Ja, und das ist nicht verwunderlich«, sagte Tarald und hielt den beiden anderen die Pforte auf. Yrja Herz pochte. Daß sie, die häßliche, unwürdige Yrja hier friedlich plaudernd neben dem Pastor und Tarald ging! Wenn das die arme Mutter sehen könnte!
»Allerdings hat Großvater mich einmal so sehr ausgeschimpft, daß ich mir vorgekommen bin wie der letzte Dreck«, sagte Tarald. »Aber er hatte vollkommen recht. Ich habe mich Überaus verantwortungslos benommen.«
»Ihr müßt Euch nicht schuldig fühlen wegen Kolgrim«, sagte Herr Martinius. »Eine solche Liebe wie die Eure war einfach unbezähmbar.«
»Das Kind habe ich nicht gemeint«, sagte Tarald ungeduldig. »Ich weiß, daß Ihr am Tod Eurer Frau sehr schwer tragt.« Tarald verlor die Beherrschung. »Das ist ja wohl klar! O mein Gott, welche Gewissensqualen mich peinigen! Ich muß hierher gehen, muß an ihrem Grab sitzen - denn meine Seele ist schwarz wie die Nacht.«
»Ihr konntet nichts für das, was geschehen ist«, sagte Yrja ruhig. »Trotzdem verstehe ich, daß Ihr trauert.«
»Trauern?« explodierte Tarald. »Begreift ihr denn überhaupt nichts, ihr beiden?«
Sie waren am Ende der Birkenallee stehengeblieben - genau in der Stelle, wo ein Kirchendiener vor vielen, vielen Jahren zusammengebrochen war, nachdem ihn Sunnivas Mutter, Sol, vergiftet hatte.
Yrja und der Pastor blickten den jungen Witwer verwundert an.
Es schien, als wollte Tarald sich endlich von der Last des schlechten Gewissens befreien, die er so lange mit sich herumgeschleppt hatte.
»Ich tue es, um zu sühnen!« schrie er beinahe. »Weil sie meinetwegen in den Tod gegangen ist - und ich habe sie nicht einmal geliebt!« Er schlug die Hände vors Gesicht. Nasser Nebel hatte die Häuser vollkommen eingehüllt, so daß man das Gefühl haben konnte, sich auf einer einsamen Insel zu befinden. Die Kirche, der Friedhof und ein Stück der Allee war alles, was sie sahen. Grästensholm war verschwunden, Lindenallee ebenso, genau wie die Hügel ringsherum.
»Nicht geliebt?« wiederholte Yrja mit starren Lippen. Sie verstand überhaupt nichts.
Tarald blickte wieder hoch, sein Gesicht war ganz verzerrt. »Es war ein Rausch, ein kurzer, wahnwitziger, hektischer Rausch. Oh, ich liebte sie, ich betete ihre zierliche kleine Gestalt an, sie war meine aller-, allererste Erfahrung in der Welt der Liebe. Nein, ich kann nicht ausdrücken, was ich meine.« »Wir verstehen«, sagte Herr Martinius ruhig. »Ich war wie verhext. Aber nachdem wir geheiratet hatten…« Sie warteten gebannt.
»Zuletzt hatte ich sie so satt«, sagte er müde. »Sie dachte immer nur an sich selbst, nicht wahr, Yrja? Sie konnte von nichts anderem reden! Quengelte ständig, wie
Weitere Kostenlose Bücher