Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
unglücklich sie war, daß sie niemanden auf der Welt hätte. Das war eine große Lüge, denn sie hatte eine wunderbare Familie, die sich um sie kümmerte und alles für sie tat.« »Ja, das stimmt«, sagte Yrja leise. Tarald nickte geistesabwesend. Er strich sich über die Stirn und sah hinüber nach Grästensholm, das im Nebel verborgen lag. »Es war, als ob sie nicht mich liebte, sondern den Ausdruck meiner Liebe zu ihr in meinen Augen. Nein, ich kann mich heute nicht richtig ausdrücken!« »Doch«, sagte der Pastor. »Ihr meint, daß sie es liebte, Eure Bewunderung und Eure Liebe zu genießen - ohne etwas zu geben.«
»Ja, ungefähr so. Ich mußte sie ständig verwöhnen. Am Anfang war das ganz lustig, aber dann… Einmal hörte ich, Mutter zu Vater sagte: Sunniva hat so gar nichts von Sols an sich. Und Vater sagte: Ja, das stimmt. Ich glaube, sie hat viel von Heming Vogtmörders Art, sich aus allem herauszuziehen. Anderen die Schuld zu geben. Sich das Mitgefühl der Menschen zu erschleichen. Sol war viel anständiger, auch wenn sie auf der falschen Seite des Gesetzes stand, was Sunniva nicht tut. Ich war genau derselben Meinung. Obwohl ich die legendäre Sol natürlich nie kennengelernt habe.«
Er senkte den Kopf. »Ach, ich hatte Sunniva so satt! Haßte sie beinahe. Und als sie dann starb - ja, da war es, als ob ich es mir gewünscht hätte! Ich gab mir selbst die Schuld dafür, und mir schien, als wäre das Kind ein grotesker Beweis für meine Kaltherzigkeit. Als wäre der Junge eine Strafe!« Der Pastor, der still zugehört hatte, richtete sich auf, entschlossen zu handeln.
»Ich glaube, wir sollten jetzt in die Kirche gehen und beten, alle drei. Ich verstehe Eure Qualen nur zu gut, Herr Tarald. Nur der Segen des Herrn kann Euch jetzt davon erlösen. Kommt mit mir!«
Wiederstandslos folgte Tarald ihm. Yrja zögerte, aber Herr Martinius bedeutete ihr, daß sie mitkommen sollte. Drinnen in der stillen Kirche knieten alle drei nieder und beteten inständig.
Aber Yrja gelang es nicht richtig, dem Gebet zu folgen. In Ihrem Innern jubelte es heidnisch und unverzeihlich: Er hat sie nicht geliebt, er hat sie nicht geliebt, nicht geliebt, nicht geliebt…!
Und dann, im selben Atemzug, reichlich inkonsequent: Arme, kleine Sunniva!
Aber sie meinte auch das aus ganzem, tiefstem Herzen.
8. KAPITEL
Nach der Beichte vor dem Friedhof schien es, als hätte Tarald ein entspannteres Verhältnis zu seinem furchtbaren Sohn gefunden. Einige Tage später fiel ein Schatten auf Yrja, die den Jungen auf dem Schoß hatte und ihm ein Lied vorsang. Ob Kolgrim das Lied mochte oder nicht, war unmöglich festzustellen; er starrte nur unaufhörlich auf Yrjas Lippen, folgte ihren Bewegungen.
Tarald kam. Zum erstenmal schaute er Kolgrim wirklich an. Yrja verstummte, hatte plötzlich das Gefühl, daß ihr kleines Liedchen sich dumm anhörte, daß ihr Gesang schlecht war. Aber Tarald bemerkte sie sicherlich gar nicht. »Er sieht Tengel ähnlich«, sagte er kurz.
»Ja, natürlich tut er das«, sagte Yrja, die begriff, daß Tarald sich verzweifelt an eine Hoffnung klammerte. »Und Frau Silje hat erzählt, daß auch Herr Tengel ein schwieriges Kind gewesen sein muß.«
Taraids Gesicht erhellte sich für einen Moment. »Häßlich auch?« »Vermutlich.«
»Großvater war der liebste und beste Mensch, den ich je gekannt habe.«
»Absolut! Außerdem verwachsen sich die Gesichtszüge des Jungen so schnell, daß man beinahe dabei zusehen kann.« »Ja, nicht wahr?«
Tarald hockte sich hin und schaute dem Jungen in die Au gen. »Na, du«, flüsterte er versuchsweise.
Kolgrim starrte ihn mit seinen Katzenaugen unter dem zotteligen Pony hervor an. Sein breiter, boshafter Mund verzog sich zu einem warnenden Knurren.
»Lieber Himmel«, sagte Tarald bestürzt und erhob sich rasch.
»Er meint es nicht so«, sagte Yrja weich. »Das ist seine Art zu reden.« »Du meine Güte!«
Er sah auf ihre Hände. »Gebissen hat er dich auch.« »Ja, er hat einen starken Willen. Aber er akzeptiert mich.« Wie zum Beweis grub Kolgrim seine Finger in ihre Wange und kniff fest zu. Yrja ertrug es ohne einen Laut. »Kann er laufen?« fragte Tarald, der zur Wand hinüber gegangen war. »Und ob er das kann, was, Kolgrim?«
Der Junge glitt von ihrem Schoß herunter und stapfte auf seinen Vater zu. »Nehmt ihn in Empfang«, sagte Yrja leise.
»Er versteht ja, was wir sagen!« sagte Tarald überrascht und reckte seinem kleinen Sohn etwas widerwillig die Arme
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