Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
entgegen.
»Ja, warum sollte er das nicht tun? Habt Ihr gedacht, daß… Nein, er ist ganz normal entwickelt für sein Alter, körperlich genauso wie geistig.«
Kolgrim wackelte unsicher auf seinen Beinchen, und Tarald war geistesgegenwärtig genug, seine Arme noch etwas weiter auszustrecken, so daß sich der Junge hineinfallen lassen konnte, ohne sein Gesicht zu verlieren.
Zaghaft, ängstlich und mit einem Kloß im Hals drückte Tarald den Kleinen an sich. Kolgrim revanchierte sich, indem er seinem Vater kräftig ins Ohr biß, so daß es zu bluten anfing.
Je größer der Junge wurde, um so deutlicher wurde es allen, daß aus ihm kein neuer Tengel werden würde.
Aber es stimmte, was sie beobachtet hatten: Seine grotesken Gesichtszüge glätteten sich langsam und machten Platz für einen noch unfertigen, doch schon deutlich erkennbaren Charakterausdruck. Der Körper wuchs, so daß er sich den langen Armen anglich, und einen Hals bekam er auch. Aber obwohl seine Züge menschlicher wurden und es sogar so aussah, als könnte sein Gesicht richtig hübsch werden, blieb doch das Schlimmste unverändert, das, was Yrja und die anderen sich am meisten fortwünschten: die abstoßende Gefühlskälte in den gelblichen Augen. Der fehlende Humor. Das abschreckende Aussehen, das er bei seiner Geburt gehabt hatte, war nun beinahe nichts mehr als eine ferne Erinnerung - wie ein böser Traum, den sie nie wirklich erlebt hatten. Aber insgeheim dachte Yrja oft, daß sie es viel lieber hätte, seine Gesichtszüge würden häßlich bleiben, als diese Bosheit in den Augen sehen zu müssen. Denn einen mißgestalteten Menschen kann man liebhaben, vielleicht mehr als andere, doch von einer verkrüppelten Seele hält man sich fern.
Aber er ist doch nur ein Kind, dachte sie oft verzweifelt. Er hatte ein Recht auf all ihre Liebe. Und die bekam er - reichlich sogar. Sie blieb nur so bedenklich unbeantwortet.
Bis zu einem gewissen Grad tolerierte er die Frauen, Yrja und Liv. Weil er sie brauchte. Alle anderen waren ihm egal. Aber Tarald gab sich wirklich Mühe, seinen Sohn kennenzulernen und ihn zu verstehen. Und so manches Mal seufzte er schwer.
Mit Kolgrims Intelligenz war alles in Ordnung. Er lernte sehr schnell, welche Macht Worte hatten - besonders das kleine Wörtchen »Nein«. Das verwendete er mit ausgeklügelter Energie.
Yrjas Geduld war unglaublich. Liv mußte sich dem kleinen Wildfang oft geschlagen geben, und dann rief sie erschöpft nach Yrja, die ruhig abwartete, bis der Junge sich ausgetobt hatte. Wenn er dann sah, daß seine Bockigkeit nicht die erhoffte Verzweiflung und Wut bei seinem Kindermädchen hervorrief, gab er schmollend auf.
Niemals hätten sie gedacht, daß ein kleines Kind so berechnend und schlau sein könnte!
Liv erhielt einen Brief von Cecilie, den sie Yrja laut vorlas.
Ich habe Heimweh, Mutter! Ich sehne mich so schrecklich nach daheim, jetzt wo Weihnachten vor der Tür steht und ich daran denke, was alles für Vorbereitungen auf Grästensholm im Gange sind.
Aber dieses Jahr kann ich nicht nach Hause kommen, denn alle wollen irgendwie weg, ich weiß nicht einmal, wohin, und ich bleibe mehr oder weniger mit der Verantwortung für die Kinder hier zurück. Nicht, daß ich mich hier nicht wohlfuhlen würde, ich habe wohl mittlerweile Wurzeln geschlagen in Dänemark und auch viele Freunde, aber ich war ja schon seit Jahren nicht mehr zu Hause. Taralds kleiner Sohn ist inzwischen schon zweieinhalb Jahre alt, Großmutter Charlotte und Jacob sind tot, ebenso wie Sunniva und Großmutter Silje und Großvater Tengel. Daheim passiert so viel, und ich kann nicht dabei sein! Bei keiner Hochzeit, keinem Begräbnis und keiner Taufe! Ich habe solche Angst, daß noch mehr passiert, ja, ich denke tatsächlich manchmal so schreckliche Sachen, daß ich schnellstens nach Hause kommen sollte, bevor noch mehr sterben! Wenn ich nur ein einziges Weihnachtsfest zu Hause sein dürfte! Ich habe ja solches Heimweh!
Liv ließ die Hand mit dem Brief sinken. »Mein armes kleines Mädchen, ich muß mit Dag reden, daß sie doch zwischendurch einmal nach Hause kommen muß. Ich habe sie natürlich auch schrecklich vermißt, aber es schien immer, als würde es ihr dort sehr gut gehen.«
»Ach, das wäre schön, Cecilie einmal wiederzusehen«, sagte Yrja, die gerade versuchte, Kolgrim für draußen anzuziehen, was er haßte.
Yrja sprach niemals über die schlimme Begebenheit vor ein paar Monaten, als Tarald freudestrahlend zu Hause
Weitere Kostenlose Bücher