Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
erzählte, daß er eine attraktive Frau kennengelernt hatte. Alle waren natürlich sehr froh darüber gewesen, nur Yrja hatte versucht, die schmerzenden Stiche in ihrem Herzen zu dämpfen. Die Frau war zu Besuch gekommen, ein entzückendes adeliges Fräulein, das alle voller Wärme und Freundlichkeit empfangen hatten.
Aber dann hatte die Dame Kolgrim gesehen, Taralds Kind. Die spitzen Schultern, die Sunniva das Leben gekostet hatten. Das Gesicht, das zu der Zeit noch viel von seiner Abscheulichkeit hatte. Die Augen, die sie mit instinktiver Eifersucht durchbohrten, erfüllt von einem unmenschlichen Haß. Sie blieb noch ein paar Tage - so lange, wie ihr Besuch von vornherein hatte dauern sollen. Aber sie kam nie wieder, und kurz darauf erhielt Tarald nur einen kühlen, bedauernden Brief.
Da hatte er sich eingeschlossen und seinen Sohn lange Zeit keines Blickes gewürdigt.
Es gab viele Gerüchte über Kolgrim innerhalb der Gemeinde. Hartnäckig war die Rede von einem Wechselbalg, sie ließen nicht davon ab, obwohl die Hebamme und auch Yrja immer wieder beteuerten, er sei keiner. Sie waren schließlich bei der Geburt dabei gewesen und hatten mit eigenen Augen gesehen, wie dieses Ungetüm den Mutterleib verlassen hatte. Es waren keine Trolle in der Nähe gewesen, und außerdem hatte der Pastor fast unmittelbar danach das Kind getauft. Daraufhin sagten die Leute, daß Sunniva sich dem Teufel hingegeben hätte, und dieses Gerücht quälte Liv schrecklich. Der Pastor versuchte, das Geschwätz zu entkräften, indem er verkündete, daß das Kind im Namen des Herrn getauft sei - aber die Neugier war groß. Alle wollten diese Mißgeburt sehen, von der das Gesinde auf Grästensholm so viel raunte. Bisher war der Junge im Haus gehalten worden. Aber jetzt hatte Yrja das ganze Geschwätz satt - sie brachte diesem Kind tiefe Gefühle entgegen, sie, die selber die Grausamkeit der Leute in bezug auf angeborene Mängel zu spüren bekommen hatte.
Also zog sie Kolgrim seine schönsten Sachen an, kämmte sein Haar zurück, damit es unter der Kapuze nicht zu sehen war, setzte ihn auf den Tretschlitten und fuhr mit ihm fünf Wochen vor Weihnachten zur Kirche. Liv hatte an dem Tag Halsschmerzen und blieb zu Hause, deshalb wußte sie von nichts. Die anderen waren mit dem Pferdeschlitten vorausgefahren.
Schon am Kirchenhügel fing das Starren und Flüstern an. Aber Yrja hob ihn ruhig vom Schlitten und führte ihn zur Kirchentür. Äußerlich war sie beherrscht und gelassen, aber ihr Herz klopfte so heftig, daß es wehtat.
Die Schwierigkeiten begannen in der Vorhalle. Kolgrim zog und zerrte an ihrer Hand, er wollte nicht in dieses kühle, fremde Haus.
Wenn er jetzt anfängt zu schreien, ist alles vorbei, dachte Yrja nervös. Dann denken sie, daß er wirklich ein Teufelskind ist. Der Sohn des Leibhaftigen.
Deshalb hatte sie ein paar Weihnachtsnaschereien mitgenommen, ein paar Leckereien von Grästensholm, und ihm schnell einen Bissen in den Mund gesteckt.
»Du kriegst noch mehr, wenn du still bist und mitkommst«, lockte sie ihn.
Kolgrim war tatsächlich still. Und genau in dem Moment kam Herr Martinius in die Vorhalle, zu ihrer großen Erleichterung. Zu ihm hatte sie grenzenloses Vertrauen nach ihren gemeinsamen Erlebnissen während der Pest. Er kam sogleich auf sie zu und begrüßte sie.
Yrja nahm den Jungen auf den Arm. Er war ziemlich schwer.
»Herr Martinius, darf ich Euch um etwas bitten?« »Natürlich, Yrja.«
Sie führten ein langes, geflüstertes Gespräch, während die Kirchenbesucher vorbeizogen und ihnen heimliche Blicke zuwarfen.
Dann begleitete der Pastor Yrja zur Kirchenbank, die für die Leute von Grästensholm reserviert war. Tarald erstarrte vor Schreck darüber, seinen Sohn hier in aller Öffentlichkeit zu sehen, und Dag lächelte ein steifes Begrüßungslächeln. Zum Glück hatten die Kerzen Kolgrims Aufmerksamkeit gefesselt, und dabei blieb es eine ganze Weile. Anschließend zeigte Yrja ihm das Schiff unter der Decke. Als er keine Lust mehr hatte, es anzusehen, drehte er sich um und schaute die versammelte Gemeinde an, die gierig seinen Anblick in sich aufsaugte und wohlig erschauderte. Aber ein wenig enttäuscht waren sie wohl, er war nicht so abstoßend, wie die Gerüchte es wollten. Aber diese Augen… Also wenn die nicht von Satan selbst waren, dann wußten sie auch nicht! Yrja wußte, daß mehrere ihrer Angehörigen von Eikeby in der Kirche waren. Falls die Mutter jetzt da war, wäre sie sicher am
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