Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
wie zum Beispiel die Treppe hochkrabbeln - , konnte er fuchsteufelswild werden, und dann erscholl sein heiseres Brüllen über das ganze Anwesen. Er weinte nicht, er schrie nicht. Er brüllte und röhrte wie ein gereizter Stier.
Dann hatte Liv schreckliche Mühe damit, ihn zu beruhigen, und an ihren Händen und Armen trug sie viele Bißnarben. Aber Yrja war immer da.
Der Tag vor einem Jahr, als Yrja mit ihren Eltern daheim auf Eikeby gesprochen hatte, war ein schwerer Tag gewesen. Um sie herum wimmelte es von unzähligen kleinen Geschwistern und einer Horde von Nichten und Neffen. Die erschöpfte Mutter starrte sie über den Tisch hinweg an. »Nach Grästensholm ziehen? Warum?«
»Die Frau Baronin hat mich gebeten, ihr bei der Pflege von Taralds Sohn zu helfen.«
»So, du sollst also Kindermädchen werden? Die ganze Zeit da oben wohnen? Und was soll aus uns werden, wenn du nicht mit deinem Lohn nach Hause kommst?«
»Mutter, Ihr wißt sehr gut, daß Frau Silje mich nur bezahlt hat, weil sie so gutherzig war. Nun ist sie tot, Friede ihrer lieben Seele!«
Der Vater, unrasiert und ungewaschen, sagte: »Wenn sie fort ist, haben wir mehr Platz hier, Tilda. Aber du wirst doch bezahlt, Kind?«
»Darüber haben wir nicht gesprochen. An Bezahlung habe ich nicht gedacht.«
»Hast du etwa vor, umsonst zu arbeiten? An uns denkst du natürlich überhaupt nicht, Hauptsache, du kannst schön oben auf dem Herrenhof wohnen«, brummte er. »Sollen wir denn nie unseren Lohn dafür kriegen, daß wir euch in die Welt gesetzt haben? Sieh dich um, ich verheirate ein Kind nach dem anderen, aber alle kommen sie mit Mann und Frau und Kindern wieder zurück. Nicht einer von euch Teufeln kommt auf eigene Faust zurecht. Aber geh du nur. Dann haben wir ein Maul weniger zu stopfen!«
Die Mutter rief laut, um den Lärm im Raum zu übertönen: »Du verlangst anständigen Lohn, das sage ich dir! Und den lieferst du hier ab! Jeden einzelnen Schilling! Ein bißchen was werden wir ja wohl verlangen dürfen für all die Arbeit mit dir!«
Yrja wußte, daß sie das gehorsamste aller Kinder gewesen war auch wenn sie am Anfang zu schwach gewesen war um daheim mitzuarbeiten, und es später nicht mehr durfte, weil sie hinaus und Geld verdienen sollte. Sie wußte auch, wie ungewöhnlich es war, daß ältere Kinder, die von zu Hause fort gingen, mit barem Geld entlohnt wurden. Schlechte Kost und ein ärmlich Lager, das sie oft mit anderem Gesinde teilen mußten, das war es, was sie kriegten. Aber sie hielten sich auf diese Weise immerhin am Leben, und dafür hatten sie dankbar zu sein. Deshalb war Yrja für die Eltern so wertvoll wie Gold. Auch wenn diese sich nicht anmerken lassen wollten.
Aber sie konnte die Mutter verstehen. Sie war eine hart geprüfte Frau. Niemand hätte geglaubt, daß sie kaum älter war als die feine, anmutige Baronin Liv von Meiden. Zahnlos saß sie da, die Mutter, mit dünnen Haaren, der Körper ausgemergelt, an den Händen traten Adern und Sehnen wulstig unter der Haut hervor, und in den stumpfen Augen lag ein desillusionierter Blick. Schon wieder schwanger - aber diesmal könnt es, wenn man ihr Alter bedachte, eigentlich nur ihr letztes Kind sein, dachte Yrja. Jedenfalls hoffte sie es, um der Mutter willen. Yrja hatte schrecklich wenig Lust, die Baronin um Geld zu bitten. Sie wollte ihnen helfen und sie nicht ausnutzen.
Die Mutter senkte die Stimme und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: »Ist es wahr, was man so hört, daß es ein unnormales Kind ist - ein Wechselbalg?«
»Wechselbalg?« sagte Yrja entsetzt. »Nein, das ist es nicht, das kann ich beschwören. Es sind keine Trolle ins Zimmer gekommen, um ihr eigenes Balg unterzuschieben.« »Ach, nicht«, sagte die Mutter enttäuscht. »Aber Geld mußt du verlangen!« Yrja seufzte. Wie sollte sie das nur anstellen?
Die ganze erste Woche verging, ohne daß sie etwas sagte. Es war Baron von Meiden, Dag, der sie rettete.
»Yrja… Ich weiß, daß Mutter Silje dich unendlich geschätzt hat. Ich glaube auch, daß sie dir hin und wieder eine Münze zugesteckt hat, nicht wahr?«
»Ja, Herr Baron. Jeden Samstag. Aber ich möchte nicht…« »Doch, liebe Yrja. Und du weißt, wie dankbar wir für deine liebevolle Hilfe bei der Betreuung des Jungen sind, ja, wir sind vollkommen darauf angewiesen. Wir wissen, daß du niemals etwas dafür fordern würdest. Deshalb nimm stattdessen das Kleid als Zeichen unserer Dankbarkeit, willst du das tun?« Sie schluckte und nickte.
Dag,
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