Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
liebsten im Erdboden versunken, aus lauter Scham über die Tochter, die ganz unbefangen auf der Grästensholm-Kirchenbank saß mit einem solchen Trollkind auf dem Schoß.
Nun war Kolgrim ein ungewöhnlich schweigsames Kind, und sobald er Anstalten machte, etwas zu sagen und unruhig zu werden, steckte Yrja ihm eine Leckerei in den Mund. Dann sprach der Pastor plötzlich direkt zur Gemeinde, und Yrja zuckte zusammen. Jetzt war es soweit! Wie würden sie seine Worte wohl aufnehmen?
»Wir haben heute ein neues kleines Mitglied der Gemeinde hier in der Kirche. Ein kleiner Junge, den ich selbst getauft habe, nur kurze Zeit nachdem seine Geburt seine arme Mutter das Leben gekostet hatte. Viel Dummes und Häßliches ist über dieses Kind gesagt worden. Aber jetzt will ich euch ein wenig über seine Herkunft erzählen.
Seht ihr nicht, wem der Kleine ähnelt? Seht seine Schultern an, das schwarze Haar (Yrja nahm ihm die Kapuze ab) und die seltsamen Augen! Er sieht einem Mann ähnlich, der auf eine ebenso unglückselige Weise zur Welt kam, dessen Geburt ebenfalls das Leben der Mutter gekostet hatte und der seine ganze Kindheit hindurch bitter dafür hatte büßen müssen. Ein Mann, den wir als den edelsten, gütigsten und barmherzigsten Menschen im ganzen Kirchspiel kennengelernt haben, ein Mann, den wir alle liebten - es war der Urgroßvater dieses Jungen, Herr Tengel. Auch er war, so heißt es, ein schwieriges Kind. Wollen wir dem kleinen Kolgrim eine ebenso tragische und einsame Kindheit bereiten, wie sie Herr Tengel einst hatte? Oder wollen wir ihn voller Liebe aufnehmen, so wie unser Herr Jesus Christus ihn bereits aufgenommen hat?«
Es war still geworden in der Kirche. Nach einer kleinen Pause fuhr Herr Martinius damit fort, der Gemeinde zu verkünden, welche Kinder geboren worden waren und wen der Herrgott abberufen hatte.
Das Eis war gebrochen. Alle Grästensholmer und auch Ares Familie von Lindenallee atmeten erleichtert auf. Deshalb drückte man willig ein Auge zu, als Kolgrim ungebärdig wurde und Yrja ihn hastig aus der Kirche schaffen mußte. Er hatte nämlich Kurs auf die Kanzel genommen, um dem Pastor dort oben Gesellschaft zu leisten. Unter heftigem Wutgebrüll wurde er hinausgetragen.
Aber sie irren sich, alle zusammen, dachte Yrja beklommen. Man konnte Kolgrim nicht mit Tengel vergleichen. Ihm fehlte etwas ganz Wesentliches. Tengel hatte Anteil an den Menschen genommen. Kolgrim waren sie vollkommen egal. An diesem Abend kam Tarald herein, als sie den Jungen gerade zu Bett brachte. Er stand da und beobachtete sie so lange, daß sie ganz verwirrt wurde und ungeschickt Kolgrims Schuh fallen ließ. Tarald hob ihn auf und gab ihn ihr.
»Danke«, flüsterte sie und wagte nicht, ihn anzusehen. Da spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter. »Ich habe zu danken«, sagte er voller Wärme.
Dann ging er. Aber er machte es sich zur Gewohnheit, bei ihnen zu sitzen und zu plaudern, während Kolgrim ins Bett gebracht wurde. Yrja freute sich auf diese Momente, sie lebte dafür. Sie genoß es so sehr, sich mit Tarald zu unterhalten, und gleichzeitig hatte sie Angst, er könnte merken, wie viel es ihr bedeutete.
Der Jahreswechsel und der kalte Winter 1624 gingen irgendwie vorüber, obwohl Yrjas Nerven langsam immer dünner wurden. Zum einen wegen der Anstrengung, Kolgrim bei Laune zu halten, zum anderen wegen der Schwierigkeit, ihre Liebe zu Tarald zu verbergen.
Am selben Tag, als sie über die Nachricht jubelten, daß Cecilie zum nächsten Weihnachtsfest nach Hause fahren dürfte, starb Yrjas Mutter im Wochenbett. Diese völlig unnötige Geburt in ihrem Alter war eine Zumutung. Sie war verbraucht, ausgenutzt von allen, aber vor allem von ihrem Mann. Nun sollte Yrja auf Befehl ihres Vaters, der jetzt allein mit der ganzen Kinderschar dastand, nach Hause zurückkehren.
Liv wurde das Herz schwer. Sie konnte den Eikeby-Bauern ja verstehen, aber wie sollten sie jetzt mit Kolgrim zurechtkommen? Schweren Schrittes ging sie hinauf zum Zimmer des Kleinen. Er durfte keinen Augenblick sich selbst überlassen bleiben.
Tarald kam von den Feldern heim und traf Yrja in der Eingangshalle, genau in dem Moment, als sie im Begriff war, den Hof zu verlassen. Er war ganz verzweifelt.
»Sie werden dich kaputt machen, so wie sie deine Mutter kaputt gemacht haben! Und wir kommen hier nicht zurecht ohne dich. Du bist die einzige, die Kolgrim bändigen kann, wenn er seine Trotzanfälle hat.«
»Vater hat sonst niemanden. Meine Schwestern
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