Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
hatte.
In einer Ecke hatte jemand es sich kürzlich bequem gemacht. Eine Decke war über einen alten Sessel gebreitet, die Sitzgrube war noch deutlich zu erkennen. Kerzenspuren auf dem Tisch daneben sprachen auch eine deutliche Sprache. Auf dem Tisch Brotkrumen und ein Becher mit geronnener Milch…
Hier also hatte Kolgrim zwei Tage lang gehaust.
Tarjei sah sich um. Es war eine richtige Rumpelecke, mit einer Menge Sachen, die zu einem Haufen aufgetürmt waren.
Aber dann sah er eine Kiste aus Eisenblech, die den Spuren zufolge aufgebrochen worden war.
Es war ihm ziemlich egal gewesen, dem guten Kolgrim, ob er Spuren hinterließ. Unbekümmert und nachlässig wie die meisten Vierzehnjährigen.
Tarjei ging in die Knie und öffnete den Deckel. Er zog die Laterne näher heran.
Verwundert hob er einen alten Gegenstand aus der Kiste. Ohne zu merken, was er tat, hatte er sich in Kolgrims bequemen Sessel gesetzt.
Da saß er nun und vergaß die Welt um sich herum. Tarjei brauchte keine zwei Tage, so wie Kolgrim. Tarjei hatte eine raschere Auffassungsgabe.
Als das Morgenlicht den Schein der Laterne verblassen ließ, hob er den Kopf und flüsterte langsam:
»Er ist verrückt! Er muß vollständig verrückt sein! Das kann er nicht schaffen, er glaubt doch wohl nicht, daß er das schaffen kann?«
Das ganze Haus summte vor Leben und Geschäftigkeit, als Tarjei herunterkam, hohläugig vor Müdigkeit. Das Gesinde war in vollem Gange mit den üblichen Tätigkeiten und außerdem damit beschäftigt, nach dem Jubelfest des Abends wieder Ordnung zu schaffen. Liv kontrollierte die Lebensmittelvorräte, die sich bedenklich verringert hatten, und sie hatte gerade beschlossen, neues Bier zu brauen, als Tarjei auftauchte.
Ohne sich die Zeit für ein »Guten Morgen« zu nehmen, sagte er zu ihr:
»Wir müssen sofort Kolgrim hinterher. Ich weiß, wo er hin will.«
Liv sah ihn fragend an. »Tarald hat entdeckt, daß sein Pferd fehlt. Yrja und Tarald organisieren gerade die Suche.«
»Das ist nicht nötig. Ich gehe hinaus und spreche mit ihnen. Wo ist Mattias?« »Er schläft noch.«
Auf dem Hofplatz stand eine große Gruppe, vorwiegend Männer, und lauschte Taralds Befehlen.
»Halt ein, Tarald, es ist sinnlos, die Leute in alle Richtungen zuschicken.«, sagte Tarjei. »Ich weiß, wohin Kolgrim unterwegs ist.«
»Wohin denn?« sagte Tarald. Sein Gesicht war graubleich. Das Verschwinden seines Sohnes hatte ihm ziemlich hart zugesetzt.
»Nach Norden. Gebt mir Pferde und zwei gute Reiter, dann nehme ich die Verfolgung selbst auf.« »Aber ich will…«
Tarjei unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Nein, Tarald, du nicht!« »Aber er ist mein Sohn!«
»Gerade deswegen solltest du nicht mitkommen. Ich muß, weil er alle die Dinge bei sich hat, die in seinen unerfahrenen und völlig verantwortungslosen Händen so gefährlich sind.«
Tarald trat näher an ihn heran. »Tarjei… Vergiß nicht, daß wir ihn lieb haben«, sagte er eindringlich. »Trotz allem, was er Mattias angetan hat.«
Sein Cousin nickte. »Ich weiß. Und ich werde ihn wieder nach Hause holen. Aber jetzt geht es um sein Leben - falls er nicht rechtzeitig aufgehalten wird.«
»Tu, was du kannst«, flüsterte Tarald müde und niedergeschlagen.
Eigentlich ist keiner so vom Unglück verfolgt wie Tarald, dachte Tarjei. Gott sei Dank, daß er immer Yrja an seiner Seite hat!
Aber auch sie wirkte jetzt sehr erschöpft. Sie hatten nicht einmal Zeit gehabt, sich richtig über Mattias' Heimkehr zu freuen.
Jetzt wurden einige gute Pferde ausgesucht.
»Ich war früher ein guter Reiter«, sagte Kaleb, der jetzt saubere Kleidung trug, frisch rasiert war und richtig erwachsen aussah.
»Aber du warst vier Jahre lang in der Grube«, lächelte Tarjei wehmütig. »Du würdest dir wohl einen wunden Hintern holen bei dem Ritt! Und lieber Himmel, Junge, du bist gestern abend erst angekommen, nach einer anstrengenden Wanderung!«
»Er war es, der Mattias das alles eingebrockt hat, nicht wahr?« sagte Kaleb mit tiefblauem Blick.
»Ja«, erwiderte Tarjei beinahe scharf. »Aber vor Rachegefühlen müssen wir uns hüten. Wir haben es mit einem Kind zu tun.
»Ich habe nicht an Vergeltung gedacht. Ich dachte nur, daß der Junge völlig gewissenlos sein muß. Und wohl gefährlich für andere?« »Das ist er«, räumte Tarjei ein.
Innerlich dachte er: Kolgrim ist kein Kind. Er ist ebenso gerissen wie ein Erwachsener. Und ihm fehlt jede Art von Sensibilität oder Mitgefühl für
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