Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
sagte Brand. »Ich meine - er könnte den verborgenen Schatz ja auch auf uns unbekannte Weise gefunden haben.«
Liv nickte nachdenklich. »Er war so merkwürdig in der letzten Zeit. So geheimnisvoll. Schon seit… ja, es muß wohl vierzehn Tage her sein… Da war er zwei Tage lang hier oben auf dem Dachboden, und als er herunter kam, hatte er so ein ungutes, triumphierendes Lächeln um den Mund.«
»Liv, ist dir klar, daß du von deinem Enkelkind sprichst?« sagte Dag warnend.
Ihre Augen bekamen einen traurigen Ausdruck. »Glaubst du, ich weiß das nicht? Glaubst du, ich liebe dieses Enkelkind nicht genauso sehr wie meine anderen drei? Aber diesmal… « Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
Tarjei war plötzlich ganz aufgeregt. »Warte mal, warte mal! Was hast du gerade über den Dachboden gesagt, Tante Liv? Diesen Dachboden hier? Auf Grästensholm?« »Ja.« »Was hat er da gefunden?« »Ich habe keine Ahnung.«
Tarjei sagte entschlossen. »Heute abend werden wir ihn nicht finden. Aber gebt mir eine Laterne! Ich will versuchen herauszufinden, was er auf dem Dachboden gesehen hat, das ihm so den Kopf verdrehen konnte.« »Aber es ist stockfinster da oben, Tarjei«, wandte Liv ein. »Und so voller Gerümpel. Vor morgen wirst du da kein Glück haben.« »Morgen kann es schon zu spät sein.«
Er bekam zwei Laternen, und dann stieg er hinauf zu dem großen, ihm unbekannten Raum unter dem Dach des Gutshauses.
Zuerst verschaffte er sich einen Überblick über das Ganze.
Die Schatten waren zahlreich und geheimnisvoll. Möbel und Hausgerät vergangener Zeiten waren übereinander gestapelt, Kleider und Tücher hingen über Stangen, einige sahen aus, als ob sie da schon sehr lange hingen. Tarjei sah einen ganzen Teil schöner Gegenstände, alte, kunstvoll bearbeitete Truhen und andere Dinge, die er noch vollkommen brauchbar fand. Er wollte Liv fragen, ob er einiges davon für sein Haus haben könnte - wenn er sich einmal ernsthaft irgendwo niederließe.
Wieder einmal dachte er an Cornelia, und die Sehnsucht schmerzte in seiner Brust. Kleine, liebe, schwierige Cornelia, mit der er nicht hatte zusammenleben können, ohne Schaden an der Seele zu nehmen, aber ein Leben ohne sie kam ihm genauso unmöglich vor. Sie hatte ihm trotz allem das glücklichste Jahr seines Lebens geschenkt, wie anstrengend es oft auch gewesen war.
Und der kleine Mikael, sein Sohn, den er kaum kannte. Auf einmal schien es Tarjei, als könne er gar nicht schnell genug zu ihm nach Hause kommen. Ein Gefühl, daß es höchste Zeit war, durchjagte ihn. Ob der Junge krank war? Sein kleiner Junge, an den er immer öfter denken mußte, der sein Herz mit Wärme und Liebe erfüllte. Tarjei wußte, daß schlimme Seuchen in Deutschland wüteten. Die Bevölkerung hatte sehr leiden müssen unter den Heerscharen, die das Land vor und zurück überrollt hatten. Alle Heere bestanden zum Teil aus bezahlten Söldnern - und die, die Söldner wurden, gehörten meist zu den übelsten Einsehen, die sich das Morden und Brandschatzen und Plündern zur Ehre rechneten. Städte und Dörfer waren verwüstet, die Bauern versteckten sich in den Kellern unter ihren niedergebrannten Häusern. Niemand wagte es, sich tagsüber draußen zu zeigen. Die Hungersnot war katastrophal, aber niemand dachte daran, auf den verbrannten Äckern etwas neues anzubauen, denn alle wußten, daß bald die nächsten Plünderer scharen kommen würden. Die Hunde verwilderten und trieben sich in großen Rudeln herum - sofern sie nicht von den ausgehungerten Menschen geschlachtet und verspeist wurden. Wölfe und Räuber strichen überall umher. Natürlich schwand die Moral. Der Gottesglaube hatte den Todesstoß erhalten. Und es würde zweihundert Jahre dauern, bis die Bevölkerung wieder auf die Zahl angewachsen war, dir sie vor dem Krieg gehabt hatte. Daß 1635 das Jahr der Pest war, machte die Sache nicht besser. Nur der Schwarze Tod dreihundert Jahre früher hatte noch schlimmer gewütet.
Alles das wußte Tarjei. Und mitten in all dieser Verwüstung hatte er einen kleinen Sohn zurückgelassen. Aber Juliana hatte geschrieben, daß alles in Ordnung sei. Er mußte darauf vertrauen. Aber er sehnte sich trotzdem nach ihm. Sehnte sich und ängstigte sich um das kleine Geschöpf, für das er jetzt allein die Verantwortung trug. Er konzentrierte sich wieder auf den Dachboden. Tarjei hatte ein Gehirn, das logisch arbeitete. Und es erforderte nicht viel Nachdenken, um herauszufinden, wo Kolgrim sich aufgehalten
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