Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
finden.«
Der Aufstieg wurde rasch steiler. Und gerade als sie glaubten, sie hätten ein neues Gebirgsplateau erreicht und ein neuerlicher Aufstieg stünde ihnen bevor, standen sie plötzlich vor dem Gletscher. Schwarze Felswände umringten sie.
»Gottes vergessenes Land«, murmelte Tarjei. »Daß Großvater und Großmutter wirklich hier herüber gekommen sind! Mit einem Pferd und drei kleinen Kindern - und mit einem vierten, meinem Vater, unter dem Herzen! Es ist schier unfaßbar!«
Der Wind heulte und fegte über die endlose Weite aus Schnee und Eis. Sie fühlten sich jämmerlich klein und erbärmlich.
»Der Paß, von dem Dag erzählt hat, muß dort oben auf der anderen Seite des Gletschers sein«, sagte Tarjei. »Kommt, wir müssen ihn uns ansehen. Aber der Herrgott möge mich beschützen… «
»Wenn sie es geschafft haben, können wir es auch«, sagte Bergfinn. »Aber ob wir ihn heute bezwingen?«
»Nein. Ich weiß, daß Tengel und seine Familie ihn in der Nacht überquerten - sie mußten es einfach, wenn ihnen ihr Leben lieb war. Aber es war eine Vollmondnacht. Diese Nacht werden wir keinen Mondschein haben, und der Gletscher sieht tückisch aus, deshalb sollten wir gar nicht erst versuchen, ihn heute Nacht zu durchqueren. Und übernachten können wir dort auch nicht. Wir schlagen unser Lager hier auf. Morgen früh werden wir verfroren genug sein.«
Ja, das werden wir sicher, dachte Kaleb, als er sich so gut es ging in seinen Mantel rollte und sich dem Wind entgegen stemmte. Reine, frische Luft, nach der habe ich mich wirklich gesehnt dort unten in der Grube. Nur - muß es denn gleich soviel sein?
Tarjeis Gedanken gingen kompliziertere Wege. Der Junge ist verrückt, dachte er. Das Böse des Eisvolks ist bei ihm durchgebrochen. Ich muß ihn retten, bevor er sich selbst schaden kann.
Die Frage ist nur: Will ich das wirklich? Will ich nicht im Grunde nur den Vorrat an Zaubermitteln zurückhaben? »Nein«, sagte er laut. »Ich will es um seiner engsten Familie willen. Ihretwegen werde ich alles daransetzen, ihn mit heiler Haut nach Hause zu bringen. Und ich will aus ihm einen neuen Tengel machen!«
7. KAPITEL
In der Zwischenzeit hatte Kolgrim den üblichen, geheimen Weg eingeschlagen. Denn er wußte mehr als Tarjei… Er ritt über die weite Lichtung, wo Siljes Kutscher den Wagen zu einem Schlitten umgebaut hatte und wo die Mörder von Hanna und Grimar tot zusammengebrochen waren - einer nach dem anderen.
Tengel hatte diese Lichtung geliebt. Der Anblick der offenen Grasflächen, goldgelb zwischen dunklem, blaugrünem Wacholdergestrüpp, hatte ihn jedesmal aufs neue gefangen genommen, wenn er von draußen kam, auf dem Weg nach Hause ins Tal. Kolgrim hatte für so etwas keine Augen. In seinem Herzen sang es.
Er, Kolgrim von Meiden vom Eisvolk, war unterwegs, um die Weissagung zu vollenden. Die Weissagung, daß einer kommen würde, der größere übernatürliche Gaben hatte als irgend jemand sonst auf der Welt.
Aber dazu brauchte es einer besonderen Macht. Kolgrim war fest entschlossen, sich diese Macht zu verschaffen.
Im übrigen hatte er sich vorgenommen, den Namensteil »von Meiden« aus seinem Namen zu streichen. Das war ein ebenso weichlicher Name wie »Lind«. Kolgrim vom Eisvolk!
So wollte er sich nennen. Niemand hatte ein größeres Recht dazu als er, der väterlicher- wie mütterlicherseits das Blut des Eisvolks in den Adern trug. Seine Großmutter war eine Hexe gewesen, und der Großvater seines Vaters ein Zauberer, nein, ein Hexenmeister!
Baron, pah! Barone waren verweichlichte, degenerierte Waschlappen! Er hatte sich den Titel ganz gewiß nicht ausgesucht.
Er wollte niemals mehr nach Grästensholm zurückkehren. Das brauchte er auch gar nicht. Mattias, der Goldjunge, war heimgekehrt, und damit war sowieso alles dahin. Außerdem wollte er dort nicht mehr sein, niemals wieder! Er war jetzt erwachsen genug, die ganze Welt zu erobern. Mit magischer Kraft würde er alle Feinde und Gegner beherrschen. Und dann würde er nach Grästensholm zurückkehren und sich rächen. Jählings hielt er an.
Unbewußt war er dem alten Weg über die Ebene gefolgt, den kein Uneingeweihter fand. Was für eine Macht das war, die seine Schritte gelenkt hatte, konnte er nur raten. Natürlich wußte er, wo der Weg verlief, aber seine Gedanken waren weit fort gewesen von dieser öden Gegend. Unter einer gewaltigen Gletscherzunge gähnte ein schwarzes Loch.
Das mußte der geheime Zugang zum Tal des Eisvolks
Weitere Kostenlose Bücher