Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
größte Hexenmeister aller Zeiten wußte es nicht. Kolgrim blickte sich um. Ein winziger Bach rieselte ein Stück weiter oben hervor. Er schüttete etwas Pulver in die Hand und ging zum Wasser.
Irgendwie kriegte er das Pulver hinunter - obwohl er sich schmählicherweise an ein paar Krümeln verschluckte und husten mußte.
Nun blieb nichts mehr zu tun als sich auf den Weg zu machen zu der Stelle…
Er blieb einen Moment lang stehen. Teufel auch, er hätte die Beweise daheim auf Grästensholm vernichten sollen! Damit kein anderer, vielleicht lange nach seiner Zeit… Ach, das konnte er später noch tun - wenn er wieder nach Hause gekommen war.
Wieso übrigens nach seiner Zeit? Er konnte sich doch unsterblich machen! Hunderte von Jahren leben! Ja, das wollte er. Jetzt hatte er die Mittel, um alles mögliche zu tun!
Nach einer mühseligen Klettertour durch eine wilde, herrliche Natur - von der er nichts mitbekam - war er an dem Felsen mit den beiden Säulen angelangt.
Haare und Schultern waren schon wieder durchnäßt von dem feinen Nieselregen.
Dort oben war das Gelände flacher, ein offenes Plateau. Wo war es noch gleich? Hinter der Felsnase dort hinten…
An dieser Stelle war es sicher, wo Silje gesessen hatte,, zusammen mit Tengel und den Kleinen.
Und Sol, die auf eigene Faust vorausgegangen war, mußte hier um die Felsnase herbeigesprungen sein, die Augen vor Schreck aufgerissen, mit dem Schrei »Gefährlicher Mann!«
Sol, die sich vor nichts und niemand fürchtete, war vor Angst wie von Sinnen gewesen.
Kolgrim hatte sofort begriffen, daß dies die Stelle war! Sogar die schlanken Birken standen da, auch wenn sie jetzt kein Laub trugen.
Natürlich hatte er das berauschende Pulver nicht auf die richtige Art eingenommen, aber ein wenig wirkte es trotzdem, er fühlte, wie der Mut in ihm wuchs. Pah! Das da war ja wohl nichts, wovor man Angst haben mußte! Er weitete den Brustkorb und sog die Luft bis tief in die Lungenspitzen ein, atmete aus und ging mit zielsicheren Schritten auf die Felsnase zu…
Tarjei und die drei anderen hatten es glücklich geschafft, den Gletscher zu überqueren. Es hatte sie weit mehr Zeit gekostet, als sie ausgerechnet hatten, denn sie hatten wegen der breiten Gletscherspalten oft weite Umwege gehen müssen. Manchmal war die Schneedecke so brüchig gewesen, daß sie bis zu den Knien eingesunken waren. Und ein solcher Marsch kostet Zeit.
Aber jetzt hatten sie den Felsenpaß zwischen zwei Berggipfeln erreicht. Der Wind heulte durch die enge Passage, und Schneegriesel peitschte gegen ihre Gesichter. Zuerst sahen sie nichts, aber dann hörte das Schneegestöber auf, und das Tal des Eisvolks, das seit einem halben Jahrhundert verlassen war, lag vor ihnen. Die Ruinen der Häuser konnten sie nicht sehen, denn sie wurden von Felsvorsprüngen verborgen. Aber sie sahen ein Stück des Sees und den firnigen Schnee auf der anderen Seite.
Tarjei stand eine Weile und ließ den Blick schweifen. Ein nagendes, beklemmendes Gefühl packte ihn.
Das war also, was man das Tal des Bösen nannte. Tarjei fand eine treffendere Bezeichnung: das Tal des Leidens. Plötzlich zerriß ein Schrei die Stille, gar nicht weit von ihnen entfernt. Es war ein langgezogener, hohlklingender Ruf voller Angst und Entsetzen, der stoßweise kam, so als würde derjenige, der ihn ausstieß, laufen. Zu spät, dachte Tarjei.
Und dann sahen sie ihn, Kolgrim, der in wilder Flucht den Abhang weit rechts von ihnen hinabstolperte, während er die ganze Zeit schrie und heulte, wahnsinnig vor Entsetzen.
»Kommt«, rief Tarjei, und sie begannen zu laufen, quer über den Abhang nach unten, um ihn einzuholen. Tausend Gedanken rasten Tarjei durch den Kopf. Er hat die Stelle gefunden, dachte er. Aber was ist passiert? Er kann noch keine Zeit gefunden haben, das Gebräu zu kochen, dazu ist er zu kurz hier. Er muß dasselbe gesehen haben wie Sol damals.
Kolgrim hatte sie nicht entdeckt. Er rannte um sein Leben, fort von dem schrecklichen Anblick, auf den Abgrund zu, an dessen Rand er den Beutel abgelegt hatte. Er mußte ein Mittel zur Beruhigung haben… mußte das Bild aus dem Kopf kriegen. Mußte stark werden. Fieberhaft suchte er den Beutel, riß ihn auf und lief zum Bach, nahm eine große Handvoll Pulver und spülte es hinunter. Ein leichtes Unwohlsein hielt ihn davon ab, auch noch den Rest des Beutels in sich hineinzuschütten. Er warf sich ins Gras. So, ja…
Herrlich, jetzt begann er wieder das wunderbare Glücksgefühl zu
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