Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
schüttete den Inhalt des Beutels auf der Wiese aus, auf der Dag und Liv und Sol als Kinder gespielt hatten. Er wunderte sich über all die mystischen, manchmal lächerlichen Gegenstände, die zutage kamen. Alles das hier schütte ich in den Kessel, dachte er. Nichts für irgendwelche Nachfahren übrig lassen, das Zeug ist sowieso nur für mich bestimmt gewesen!
Am wichtigsten war wohl das, was die kleinen Lederbeutelchen und Schachteln enthielten. Auf allen stand etwas geschrieben, aber von den uralten Kritzeleien verstand Kolgrim nichts. Auch nicht von den verwischten Mitteilungen auf ein paar dicken, fast verblichenen Rollen aus Birkenrinde…
Wenn er sich die Zeit für den Versuch genommen hätte, diese Schriften zu entziffern, hätte aus ihm vielleicht ein kundiger Hexenmeister werden können. Ach was - nur hinein mit dem ganzen Zeug in den Kessel, da würde der Krempel sicher am besten wirken, meinte er.
Es waren aber ein oder zwei kleine Beutel dabei, auf denen Namen standen, die Kolgrim kannte. Waren das nicht Mittel oder Pulver, die das Gemüt leichter machten und einen in Trance versetzten? Das mußte er ausprobieren! Sofort!
Aber vielleicht war es doch besser, zuerst die bewußte Stelle zu suchen.
Er packte alles wieder ein, aber die Beutelchen mit den berauschenden Drogen steckte er in sein Hemd. Dann warf er den Sack über die Schulter und ging los. Es war ein langer Aufstieg. Von den Ruinen der alten Häuser ging er schräg hinauf über gewundene Kuhpfade, die so tief ausgetreten waren, daß all die Jahre sie nicht hatten auslöschen können. Er blieb stehen.
Dort oben unter dem Felsen mit den beiden säulenartigen Spitzen sollte es sein…
Zuerst mußte er hinauf zum Rand des Abgrunds. Ja, hier war der Pfad.
Kolgrim schwitzte. Diese Art der Bewegung an der frischen Luft war er nicht gewohnt. Nicht, daß es besonders warm gewesen wäre, es nieselte, und sogar Schnee lag in der Luft hier oben in dem hochgelegenen Gebirgstal. Aber der Aufstieg setzte ihm hart zu.
Nur gut, daß jedenfalls seine Kleider nach dem Weg durch den Tunnel inzwischen wieder trocken geworden waren…
Er atmete schwer und angestrengt. Die Einsamkeit hüllte ihn wie ein diffuser, unsichtbarer Nebel ein. In der Ferne über dem See gellte der scharfe Schrei eines Raubvogels durch die tiefe Stille. Und irgendwo in seiner Nähe erklang der ängstliche Ruf des Goldregenpfeifers. Als er die Kante des Abgrunds erreicht hatte, schlug ihm der Wind so heftig entgegen, daß es ihn beinahe umwarf. Er kletterte an den Rand und blickte hinunter in den Abgrund. Ihm wurde schwindlig. Dort unten türmte sich ein Kegel aus Geröll auf, das aus der Felswand unter ihm herausgebrochen war.
Und tief, tief unter ihm lagen die zerstörten Häuser des Eisvolks. Von dort aus, wo er jetzt stand, konnte er sogar sehen, daß einige von ihnen immer noch schwarz waren vom Ruß der Feuersbrunst damals. Andere waren kaum erkennbare Ruinen, nur die überwucherten Grundmauern standen noch. Auf Tengels Hof konnte er einen kahlen Baum sehen, der im Wind schwankte. Wahrscheinlich der Hofbaum, dachte er.
Auf einmal wünschte er sich, es wären Menschen auf all den Höfen dort unten. Hexen - und Zauberer wie er selbst. Ohne zu ahnen, daß es sein eigener Großvater gewesen war, der unselige Heming Vogtmörder, der diese Verwüstung angestiftet hatte, stand Kolgrim mitten in der überwältigenden Einsamkeit und tat sich selbst leid. Nun brauchte es wahrhaftig Mut, das zu tun, was er tun mußte, dachte er. Stark werden, wie Tengel der Böse es geworden war. Das war es, was er wollte.
Keine Kunst übrigens für Tengel den Bösen. Zu seiner Zeit war das Tal ja voller Leute gewesen. Kolgrim dagegen war ganz allein. Ganz unfaßbar, grenzenlos allein. Und niemand wußte, daß er hier war. Niemand auf der ganzen Welt.
Aber den Sack wollte er jetzt nicht länger tragen. Der konnte ruhig hier am Abgrund liegen, bis er die richtige Stelle gefunden hatte.
Die Stelle, wo sein böser Ahnvater Satan höchstpersönlich begegnet war!
Niemand außer Kolgrim wußte, wo das war.
Es lief ihm eiskalt über den Rücken. Ihm, der sonst wahrhaftig kein Angsthase war!
Aber das hier war ja auch kein Zuckerschlecken. Ob er vielleicht…
Vielleicht war es möglich, sich etwas mehr Mut zu verschaffen?
Nachdenklich wiegte er einen der kleinen Lederbeutel in der Hand. Den Namen kannte er.
Es war ein Pulver im Beutel, ein getrocknetes, zerriebenes Kraut. Aber wie nahm man es ein?
Der
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