Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
sein!
Fünfzig Jahre waren vergangen, seitdem Menschen dort gewohnt hatten. Damals war der Eistunnel immer offen und leicht passierbar gehalten worden. Jetzt hatte die Natur in ihrer willkürlichen Art das Zepter übernommen. Außerdem war die Frühjahrsschmelze in vollem Gange, und der Fluß führte Hochwasser. Reißend schoß er unter dem Eisdach hervor.
Hier komme ich niemals durch, dachte Kolgrim entsetzt. Ich würde fortgerissen werden wie ein welkes Blatt!
Auch vom alten Eisvolk hätte sich niemand zu dieser Jahreszeit in den Tunnel begeben.
Aber die Überreste des alten Pfades am Fluß entlang waren immer noch erkennbar. Kolgrim entschloß sich, es zu wagen. Ihm blieb auch keine andere Wahl, wenn er hinein wollte. Und hinein mußte er!
Er trieb sein Pferd an, aber das scheute. Kolgrim tobte und schrie, schlug und trat und fluchte - vergebens. Schließlich mußte er den Gaul draußen auf der Ebene lassen.
Der blaugrüne Tunnel erschreckte ihn. Es wurde immer finsterer, je tiefer er hineinging. Er wußte nicht mehr, wo der Pfad war, und der Fluß dröhnte, bereit, ihn zu verschlingen, wenn er ihm zu nahe kommen sollte. Es schien, als ob die Wasserwirbel nur darauf warteten, ihn hinabzusaugen. Vereinzelt ging der Fluß so hoch daß er auf dem Bauch unter dem Eis hindurchkriechen mußte, um den Wasserkaskaden zu entgehen. Manchmal polterten große Eisblöcke durch den Tunnel, und dann verharrte er mit dem Rücken gegen die Eiswand gepreßt und konnte nur hoffen.
Es war kaum zu glauben, aber er schaffte es. Als er sah, daß es heller wurde, daß das Gewölbe über ihm eine durchsichtige, blaugrün schimmernde Farbe annahm, da wußte er, daß er auf dem Weg nach draußen war. Und als er wieder ans Tageslicht trat und dasselbe Bild sah, das sich Silje einmal geboten hatte, da fühlte er sich unbesiegbar. Ich bin der Größte, dachte er. Das hätte niemand außer mir geschafft!
Der fanatische Glaube an sich selbst kann manchmal einen Menschen zu unglaublichen Leistungen befähigen. Er zitterte vor Kälte in seiner durchnäßten Kleidung - aber die würde sicher schnell trocknen, dachte er optimistisch.
Langsam begann er den Abstieg in das alte Tal des Eisvolks. Überwucherte Grundmauern zeugten von der Katastrophe, die vor einem halben Jahrhundert hier geschehen war. Der Wind pfiff heulend durch die verdorrten Latschen. Hier an den Südhängen war alles weggetaut, aber jenseits des einsamen Sees, dessen Eisdecke unter lautem Krachen barst, war der Boden noch von dicken Lagen Schnee bedeckt.
Kolgrim wußte, wohin er gehen mußte. Es war das Haus des Torwächters - oder dessen Ruinen. Dort mußte der Bratteng-Hof gelegen haben.
Und da… da mußte es gewesen sein, wo Hanna und Grimar gewohnt hatten. Immer noch lag ein seltsam packender Zauber über dem überwucherten Ort. Einen Moment lang überlegte er, ob er hineingehen sollte, aber der Wind, der warnend durch das Gebüsch heulte, hielt ihn davon ab. Der größte Hexenmeister der Welt erschauerte und hastete weiter.
Er hatte nicht gedacht, daß es hier so überwältigend, so erschreckend leer sein würde!
Nicht, daß er geglaubt hatte, Menschen hier zu treffen, das nicht. Nein, es waren diese öde Stätte der Verwüstung, die Zeugnisse vergangener Menschenschicksale, die sogar den kaltherzigen Kolgrim beeindruckten. Dann kam er zu den Überresten von Tengels und Siljes Haus. Hier wurde Großmutter geboren, dachte er, während er dort stand und seinen Blick über die unendliche Einöde schweifen ließ. Seltsam, wenn man daran denkt, was für eine vornehme Dame sie heute sein will! Das war Liv gegenüber ungerecht, aber Kolgrim hatte seine eigene Art, Menschen zu beurteilen.
Doch der Tag schritt rasch voran, er hatte keine Zeit für nutzlose, gefühlsgeladene Gedanken.
Was sollte er zuerst tun - das furchtbare Hexengebräu anrühren oder den Ort finden?
Sein Herz pochte hart vor Aufregung. Wenn er um alles in der Welt nur wüßte, wo…
Nein, es war am besten, wenn er zuerst den Inhalt des Beutels untersuchte.
Was nicht viel zu sagen hatte, denn Kolgrim zog es vor, ganz sicher zu gehen, und so hatte er sich vorgenommen, auf jeden Fall den gesamten Inhalt, was es auch sei, in einen Kessel zu schütten und auf diese Weise die gewünschte Wirkung zu erzielen. Er besaß kein Rezept, wie man Satan heraufbeschwor, das hatte nur Tengel der Böse gehabt. Aber es konnte gar nicht schiefgehen, meinte er. Er kannte ja den Ort, an dem es passiert war! Er
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