Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter
sich von ihm zu lösen. Sie wollte nicht, daß er etwas von dem Verlangen spürte, das sie beinahe zu einer Leidenschaft verleitet hätte, die der romantische Mattias nicht gutheißen würde.
»Ja, komm«, sagte er still und nahm sie bei der Hand. Als sie ein Stück den Hügel in Richtung des Kirchspiels Grästensholm hinabgegangen waren, blieben sie wieder stehen. Die Kirche lag in das goldene Licht des Augustnachmittags getaucht, der Schatten des Kirchturms wurde schon ein wenig lang, und die Reitergruppe hatte inzwischen die Wiesen im Tal erreicht. Ein alter, verfallener Heuschober stand halb verborgen im Gras zwischen Birkenstämmen und dunklen, blaugrünen Zwergkiefern.
Hier ist es auf jeden Fall romantisch genug, dachte Hilde. Aber jetzt ist er an der Reihe. Ich kann mich ihm nicht noch deutlicher anbieten, als ich es schon getan habe. Mattias runzelte die Stirn. »Was ist?« fragte Hilde.
»Ich weiß nicht. Ein Windhauch, ein Lachen… Nein, ich begreife nicht, was für ein seltsamer Gedanke gerade durch meinen Kopf geflogen ist.«
Die beiden konnten ja nicht ahnen, daß dies die Stelle war, wo die vierzehnjährige Sol vor sechzig Jahren auf den jungen Klaus gewartet hatte - um ihn zu verführen. Obwohl sie sich dessen selbst noch nicht richtig bewußt war, hatte Hilde dasselbe mit Mattias vor, dem Halbbruder von Sols Enkel.
Weil in ihm das Blut des Eisvolks pulsierte, konnte er die Nähe der schönen Hexe in der Sommerbrise spüren. Hilde konnte das nicht.
»Komm, wir setzen uns hier oberhalb des Weges hin«, sagte Mattias fieberhaft. »Das Gras ist immer noch warm.«
Sie ließen sich in der Nähe des Heuschobers nieder - nicht genau dort, wo Sol und Klaus gesessen hatten, aber nahe genug, daß die Gegenwart der Hexe immer noch in der Luft vibrierte. Vielleicht war es ihr Wesen, das auf die beiden einwirkte und sie veranlaßte, sich gerade dort niederzusetzen, oder war es vielleicht nur die Sehnsucht zweier junger Menschen, einander nahe zu sein? Aber solche Gedanken hatten weder Mattias noch Hilde, wie sie da stocksteif und verlegen an dem »romantigsten« Fleckchen saßen, wie Hilde es ausdrückte. Und diesmal berichtigte er sie nicht.
Mattias lag auf den Ellbogen gestützt und versuchte einen Grashalm zu teilen, aber seine Finger zitterten so sehr, daß es ihm nicht gelang. Eine hartnäckige Stimme in ihm - oder vielleicht kam sie auch von außen - drängelte die ganze Zeit: mach endlich, du zaghafter Tolpatsch! Sie wartet doch nur darauf.
Hilde legte sich auf den Rücken und reckte die Arme über den Kopf.
»Ich wünschte, alles wäre immer so schön wie jetzt«, seufzte sie. »Mein ganzes Leben lang habe ich mich nach Schönheit gesehnt - und so wenig davon gesehen.« Dankbar, daß sie die Stille unterbrach, streichelte er mit den Fingerspitzen ihren Hals. Er konnte nicht anders, ihre Haut war so unendlich zart und verlockend. »Ich finde, du bist selbst sehr schön«, sagte er mit heiserer Stimme. »Du trägst die Schönheit in dir.« »Findest du?« murmelte sie bewegt und hob die Hand, streichelte ihm über die Wange, spielte mit seinen kupferroten Locken, die in der Sonne wunderbar leuchteten.
»Du hättest eine andere verdient als mich«, sagte Hilde mit bebenden Lippen, denn jetzt war ihre Haut so heiß, daß er sich gewiß gleich die Finger verbrannte. »Du solltest eine sanfte, kühle und geduldige Frau haben, die so lange wartet, bis du weißt, daß du sie glücklich machen kannst.«
Seine leuchtend blauen Augen lächelten, aber nicht weit dahinter lag die Verzweiflung. »Und du solltest keinen wie mich haben - der dir nicht das geben kann, was du brauchst.«
Sie sagte zwischen Lachen und Weinen: »Wir passen nicht zueinander. Und trotzdem liebe ich dich so grenzenlos.«
»Tust du das?« flüsterte er. »Tust du das wirklich?« Weiter kam er nicht. Denn von oben vom Weg waren schwere Schritte zu hören. Es war ein Nachzügler, Jesper natürlich, der mitten in die zerbrechlich-zarte Stimmung hineintrampelte.
»Schau an, der Dokter hat sich endlich besonnen, wie ich sehe«, konstatierte er in seiner lauten, polterigen Art, die er immer an den Tag legte. »Das ist vernünftig. Ja, denn ohne geht es nicht, glaubt mir. Dann kann man nämlich eintrocknen.«
Völlig ohne Scheu pflanzte er sich neben sie ins Gras, die Beine mit den schweren Stiefeln weit gespreizt, die Arme locker um die Knie gelegt.
Mattias und Hilde hatten sich noch nicht von dem Schock erholt, als er auch schon
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