Die Saga vom Eisvolk 09 - Der Einsame
bereit, das Schlimmste zu ertragen.
Mikael wagte nicht zuzugeben, wie hilflos er sich wirklich fühlte. »Erzähl ein wenig von dir, Anette!«
Sie zuckte mit den Schultern und machte eine kindlich entmutigte Grimasse.
Um seine Unsicherheit zu verbergen, fuhr er etwas brutal fort: »Du mußt einsehen, daß ich von dem bißchen, was ich bis jetzt von dir zu sehen bekommen habe, den Eindruck erhalten mußte…«
Er holte Luft, denn beinahe wäre ihm herausgerutscht: »…daß du eine alberne Person bist, die sofort anfängt zu winseln, wenn sie zu etwas Unkonventionellem gezwungen wird.« Aber das sagte er nicht. Er begriff, daß Anette ein sensibles Mädchen war.
Statt dessen fuhr er fort: »…daß du dich innerhalb der von Konvention und Kirche errichteten Grenzen hältst. Wenn du mit den anderen Mitgliedern des Hofes zusammen warst, habe ich von dir fast immer nur gehört: - Ach nein, so etwas darf man nicht tun! Pfui, so etwas sagt man nicht! So etwas kann man doch nicht anziehen! Das gehört sich nicht! - Das gehört sich nicht. Das ist dein meist gebrauchter Ausdruck.«
Dieses Mal schoß ihr das Blut ins Gesicht. »Jetzt bist du aber gemein!«
»Das war wohl nicht nett, was ich da eben gesagt habe?« »Nein, das war es ganz und gar nicht!«
Um ihre Mundwinkel zuckte es leicht. Er mußte auch lächeln.
»Es ist wohl nichts Falsches daran, wenn man weiß, wie man sich zu benehmen hat«, verteidigte sie sich. Aber sie dachte mehr an die Mutter, deren Schatten über ihr lag. Er antwortete nicht.
»Und trotzdem hast du in diese Ehe eingewilligt«, sagte sie herausfordernd.
»Das Thema haben wir ja wohl ausdiskutiert.« »Ja, das haben wir wohl.«
Sie schwiegen beide. Mikael sah sie abwartend an. »Stimmt, ich bin ziemlich konventionell«, räumte sie ein. »Ich mag es, wenn im Leben alles geordnet ist, mit sicheren Normen, an die ich mich halten kann. Religion. Meine gute Erziehung. In unserem kleinen Dorf standen wir ja hoch über allen anderen. Meine Mutter nahm alles sehr genau. Früher habe ich etwas auf die Finger bekommen, wenn ich spontan war. Ich hatte steife Kleider mit gepolsterten Hüften und hohen Kragen. Wie die gescheuert haben. Überall hatte ich wunde Stellen! Aber Disziplin habe ich gelernt, auch wenn ich eigentlich ein lebhaftes Kind war.«
Doch, das konnte er sich gut vorstellen, nach all dem Gekicher, das er im Schloß von den Mädchen gehört hatte.
»Mutter war so stark«, sagte sie träumend. »Unglaublich willensstark. Sie war…«
Ihr fehlten die Worte. Aber Mikael fielen sie ein. Du wurdest unterdrückt und bestraft, dachte er. Aber er sagte nichts, denn die Mutter war für Anette wohl so etwas wie eine Heilige.
Nachdem sie begonnen hatte, setzte sie ihre Erzählung willig fort. Mikael fragte sich, ob er sie unmerkbar in Richtung Bett geleiten sollte, ließ es aber doch sein. Er schreckte noch immer vor dem zurück, was er im Unterbewußtsein die schwerste Prüfung in diesem Chaos plötzlicher Verpflichtungen nannte.
So blieben sie dann stehen, er gegen das Fenster gelehnt, während er sie betrachtete, sie mit den Händen auf der Fensterbank und den Blick auf den Fluß gerichtet. »An meinen Vater kann ich mich kaum erinnern«, sagte Anette. »Er ist früh gestorben, und Mutter war mit mir alleine. Sie war eine dominierende Frau, wie ich später gemerkt habe. Ganz allein hat sie das Schloß und das Dorf geleitet. Als sie vor zwei Jahren starb, wurde einer ihrer Verwandten zu meinem Vormund ernannt. Aber ich lebte hier, denn der Vetter meines Vaters, Jacob de la Gardie, hatte mich hierher mitgenommen. Ich wollte auch gerne hierbleiben, denn ich mochte ihn. Mein Vormund war sehr wütend darüber. Aber Onkel Jacob war Reichsmarschall und machte, was er wollte, nachdem ich darum gebettelt hatte, nicht zu dem entsetzlichen Mann fahren zu müssen. Und dann starb Onkel Jacob - und ich war plötzlich ganz allein. Hätte die Jungfrau Maria sich nicht um mich gekümmert, ich wäre verschmachtet.« Verschmachtet? Was für ein Wort, dachte Mikael. Sie hatte in einem atemlosen Ton erzählt, stolpernd, so wie es die jungen Mädchen bei Hof taten, als wollten sie sich dafür entschuldigen, daß es ernsthafte Dinge zu besprechen gab. »Und dein Schloß? Und das ganze Dorf?«
»Das Schloß gehört mir nicht. Keine Frau kann es erben. Das ist an einen dreijährigen Knaben gegangen, einen ganz entfernten Verwandten.«
»Nicht an deinen Vormund?«
»Nein, er ist ja ein Verwandter
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