Die Saga vom Eisvolk 09 - Der Einsame
und Enkelkinder. Und Cecilie erwies ihr das große Vertrauen, von Alexanders Neigungen und Schwierigkeiten zu erzählen, weil sie meinte, es könne Anette nicht schaden, davon zu hören. Verwirrt sah Anette ein, daß es in der Welt mehr gab, als sie geahnt hatte, daß das Leben nicht immer geradlinig verlief und man sich nicht so streng an einen einmal eingeschlagenen Weg halten konnte, wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte. Es gab auch etwas, das Toleranz hieß. In beiden Bedeutungen dieses Wortes. Weitsicht und Spielraum.
Liv stand am Grab und nahm zum letzten Mal Abschied von ihrem Bruder. Irgend etwas in ihrer Nähe beunruhigte sie.
Sie wußte was es war. Die Männer von Svartskogen waren hier und betrachteten sie mit scheelen, boshaften und selbstsicheren Blicken.
Sollte ihr Haß denn nie ein Ende nehmen? Und das, obwohl Dag so viel für sie getan hatte!
Es war eine alte Geschichte. Dag hatte deren Vater wegen Blutschande verurteilen müssen. Der Vater war hingerichtet worden, und der völlig heruntergewirtschaftete Hof kam unter den Hammer. Das war nicht Dags Schuld gewesen, das wäre so oder so passiert. Aber trotzdem legten die Söhne es dem Richter zur Last, obwohl Dag für die obdachlose Familie alles Mögliche getan hatte. Sogar den kleinen Hof weit oben auf dem Hügel, der zu Grästensholm gehörte und Svartskogen genannt wurde, hatte er ihnen gegeben. Nur war der alte Familienhof, den sie verloren hatten, viel größer gewesen. Er lag im Nachbardorf, und die Leute von Svartskogen hörten nie auf, ihn als ihr Eigentum zu bezeichnen und Richter Meiden mit Rache zu drohen…
Jetzt lebte nur noch einer der Söhne des Gehenkten. Er stand auf der anderen Seite des Friedhofes und starrte die trauernde Familie mit rachsüchtigen Augen an. Aber bisher hatte er von Rache nur gesprochen.
Schlimmer war es allerdings mit seinem Sohn, der auch dort drüben mit seinen zwei zehn bis zwölf Jahre alten Kindern stand. Vor dem hatte Liv Angst! Es war, als ernähre diese Familie sich von ihrem Gram, den sie wie ein ewiges Feuer schürte. Verwildert und hart wirkten sie alle vier, wie sie dort standen, um ihrem Brotherrn das letzte Geleit zu geben. Einem Brotherrn, den sie haßten. Are - der gutmütige Are!
Liv erschauerte und versuchte, sie zu vergessen. Auf dem Heimweg von der Kirche sprach Brand zu Anette genau die Worte, die sie so gerne hören wollte: »Würdest du Matilda und Liv beim Leichenschmaus helfen, Anette? Darauf achten, daß niemand in irgendeiner Ecke vergessen wird? Du gehörst doch jetzt zur Familie.« Die Worte taten ihr wirklich gut. Gerührt nickte sie. Sie erinnerte sich noch an den Augenblick, als sie zum ersten Mal ihre Liebe zu Mikael entdeckt hatte. Das war ganz am Ende seines letzten Aufenthaltes zu Hause gewesen, bevor er in den Krieg gegen Dänemark ziehen mußte.
Sie waren zusammen in Stockholm auf dem Markplatz gewesen. Im Gedränge hatte er für sie den Weg gebahnt, als sie ihn für einen kurzen Moment aus den Augen verlor. Sie hatte sich plötzlich allein und hilflos gefühlt. Aber er war gleich zurückgekommen und hatte sie freundlich angelächelt. Ein Gefühl von Sicherheit und Freude war in ihr aufgestiegen. Er gehörte ihr, dieser starke Mann, auf den sie sich verlassen konnte. Sein Anblick hatte ihr starkes Herzklopfen bereitet.
Nur erzählen konnte sie es ihm nicht! Statt dessen hatte sie den ganzen Abend vor der Mutter Gottes gekniet und um Vergebung für ihre sündigen Gedanken gebetet! Ach Mikael, warum habe ich nichts von deiner Menschenliebe in mir? Warum habe ich mich immer von Mißtrauen und Menschenverachtung meiner Mutter leiten lassen?
Eine Dienstmagd von Grästensholm hatte während ihrer Abwesenheit auf Mikael aufgepaßt, damit alle zu Ares Beerdigung gehen konnten. Er war jetzt soweit bei Bewußtsein, daß sie ihn mit Flüssigkeit ernähren konnten. Aber wie schwach und elend er war!
Noch bevor sie sich um das Leichenschmaus kümmerte, ging Anette in sein Zimmer und dankte der Magd, die über Mikael gewacht hatte. Sie setzte sich an sein Bett und hielt seine Hand in der ihren. Sie glaubte, einen schwachen Druck seiner Finger zu spüren. Nur ein einziges Mal.
»Mikael«, flüsterte sie ergriffen. »Ich bin bei dir. Immer!« An diesem Abend erwachte er und sah sie an. Erst wollte sie ihre Freude den anderen mitteilen, blieb aber sitzen und hielt seine Hand fest. Mikael versuchte etwas zu sagen.
»Anette.« Seine Stimme war kaum zu hören. »Bist du… gekommen
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