Die Saga von Thale 01 - Elfenfeuer
Augen.
»Wie fühlst du dich?« Vhaits Stimme klang ehrlich besorgt.
»Müde«, antwortete Sunnivah. »Schrecklich müde, am liebsten würde ich die nächsten Sonnenläufe durchschlafen.«
»Das wäre sicher das Beste für dich, aber es wird nicht gehen – jedenfalls nicht sofort.«
»Warum nicht?«
»Hörst du es nicht?« Vhait legte den Finger auf die Lippen und bedeutete ihr zu schweigen. Und plötzlich hörte sie es auch. Gedämpfte Rufe vieler hundert Menschen drangen von draußen in den Thronsaal.
»Was rufen sie?« Sunnivah war überrascht.
»Sie rufen deinen Namen!« Vhait lächelte. »Sie wollen die Auserwählte mit eigenen Augen sehen, die die Finsternis aus Thale vertrieben und ihnen den Frieden zurückgebracht hat.«
»Was soll ich jetzt machen?«, fragte Sunnivah unsicher.
»Geh hinaus und zeig dich ihnen.« Vhait lächelte. »Nur keine Angst. Sie mögen dich schon jetzt. Und wenn sie dich erst einmal gesehen haben, werden sie dich lieben.« Plötzlich trat er vor sie und schloss sie sanft in seine Arme. »So wie ich!«
Sunnivah sagte nichts. Stumm blickte sie zu ihm auf und tief in ihren Augen sah er, dass sie seine Gefühle erwiderte. Angezogen von einer Magie, die kein Magier vollbringen konnte, näherten sich ihre Lippen den seinen. Doch dann zögerte sie. »Wirst du mich begleiten, wenn ich hinausgehe?«, bat sie, ohne den Blick von seinen Augen zu nehmen.
»Ich werde dich überallhin begleiten, Schwertpriesterin«, erklärte Vhait feierlich. »Wenn du es willst, für immer.«
»Ja, das will ich«, murmelte Sunnivah undeutlich, denn ihr Mund wurde schon fast von seinen Lippen verschlossen.
Nach einiger Zeit löste sich Sunnivah zögernd aus seinen Armen. »Wir sollten jetzt besser hinausgehen«, sagte sie atemlos.
»Ja, das sollten wir!« Vhait legte seinen Arm fest um ihre Schultern und führte sie zur Tür. »Aber in einem haben wir uns dennoch alle getäuscht!«, meinte er lächelnd. Sunnivah blieb erschrocken stehen und Vhait beeilte sich weiterzusprechen. »Deine Aufgabe ist noch nicht zu Ende – sie beginnt erst!«
Epilog
Der riesige felsgraue Vogel glitt in stummer Bewunderung über das schlafende Land.
In die verschiedenen Schattierungen der mondhellen, warmen Sommernacht getaucht, lag es friedlich unter ihm. Er flog einen weiten Bogen und ließ sich mit der Luft, die von der sonnengewärmten Erde aufstieg, immer höher hinauftragen. Weit in der Ferne, dort wo die Sonne am Ende des Tages den Horizont berührt hatte, sah er das Band des Junktun wie geschmolzenes Silber im Mondlicht funkeln, und wäre die warme Luft nicht so dicht und voll gesogen mit Feuchtigkeit gewesen, hätte er am Horizont die gewaltige Silhouette des Ylmazur-Gebirges erkennen können, auf dessen höchstem Gipfel, dem ewig schneebedeckten Himmelsturm, er einst zu Hause war.
Doch die Zeit der Einsamkeit war vorüber. Er hatte Freunde gefunden. Als Sunnivah und ihre Gefährten nach dem Sieg über An-Rukhbar in die Festungsstadt eingezogen waren, hatten sie ihn gebeten zu bleiben. Sie hatten ihm die alten Höhlen der Kuriervögel hergerichtet und Nimrod war für ihn zu einer neuen Heimat geworden.
Er war glücklich. Und während er sich von der milden Sommerluft tragen ließ, durchlebte er in Gedanken noch einmal die vergangenen Mondläufe, in denen sich sein bisheriges Leben so grundlegend verändert hatte. Lediglich die betrübliche Tatsache, dass es seinen Freunden trotz intensiver Suche nicht gelungen war, einen anderen überlebenden Riesenalp zu finden, machte sein Herz schwer, und so gab es, trotz seiner vielen Freunde, tief in seinem Innern einen Platz, der für immer leer bleiben würde.
Im Osten zeigten sich die ersten zarten hellgrauen Streifen der einsetzenden Morgendämmerung. Es wurde Zeit für ihn, sich auf den Rückweg zu machen. Auch für die langlebige Gattung, der er angehörte, hatte er bereits ein hohes Alter erreicht und fühlte, dass er sich ausruhen müsse.
Als er kurze Zeit später seine große Höhle unterhalb der Festungsstadt erreichte, überkam ihn bleierne Müdigkeit. Erschöpft ließ er sich in seinem Nest nieder und war augenblicklich eingeschlafen.
»Bankivahr!«
Hatte ihn jemand gerufen?
»Bankivahr!«
Er hatte sich nicht getäuscht, jemand rief ihn bei seinem Namen. Doch wer konnte es sein? Seit so langer Zeit hatte ihn niemand mehr so gerufen. Suchend blickte er sich um. Er konnte noch nicht lange geschlafen haben, denn der Morgen hatte noch nicht
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