Die San-Diego-Mission
nach wie vor nichts. Deshalb ging Carlos ganz dicht an ihn heran und sagte: »NA GUT, DANN LEG ICH DICH UM, VERDAMMT!«
Carlos stand direkt über ihm. Und der Kerl rührte sich immer noch nicht. Darum ging Carlos wie in Zeitlupe in die Hocke, zog eine der Hände des Mannes hervor und kniete sich auf sie. Der Kerl zeigte keinerlei Reaktion. Am Ende rollte Carlos ihn ganz langsam herum und sah das, was Dick Snider später so beschrieb: »In der Brust hatte er ein Loch, durch das man eine Katze werfen konnte.«
Carlos hatte ihn nicht verfehlt. Aber er lernte bei dieser Gelegenheit, daß ganz im Gegensatz zu allem, was man ihm beigebracht hatte, manche Leute eben nicht sofort zu Boden stürzen, wenn sie eine Schrotladung direkt in die Brust gekriegt haben. Manchmal drehen sie sich bloß lässig um und machen aus eigener Kraft einen kleinen Bummel.
Carlos zog seine Bram-Stoker-Schau ab, blinzelte dem toten Mann zu und piekste ihn in sein halb offenes Auge. Carlos riß das schäbige, blutige Hemd auf und sah die schäbigen, blutigen Löcher, aus denen es tropfte.
Carlos Chacon erklärte: »Ich weiß noch, wie ich mich fühlte. Gut. Ich fühlte mich gut. Ich war froh, daß ich ihn getötet hatte. Ich wollt das noch öfter tun.«
In diesem Augenblick kam Manny Lopez angelaufen, sah, daß sich sein jüngster Cop tief über einen toten Gangster beugte, und brüllte ihm in der Annahme, er sei in eine Art Reueschock verfallen, ins Ohr: »SCHEISS DRAUF! IST DOCH NUR N TIER! DER HAT'S VERDIENT!«
Und Carlos, der die ganze Zeit über kein bißchen Angst gehabt hatte, erschrak zu Tode, als Manny Lopez ihm nochmals ins Gesicht schrie: »SCHEISS DRAUF! ER IST TOT! HAT ER DOCH VERDIENT, DER BLÖDE HUND!«
Im Moment war Carlos ganz baff. Er dachte, Manny sei sauer auf ihn, und er war verwirrt und erschrocken. Dann allerdings kapierte er, was los war, und sagte: »Manny! Du brauchst mich doch nicht zu beruhigen! Ich hab's gern getan!«
Den größten Schock hatte im blitzschnellen Verlauf all dieser Ereignisse Tony Puente erlitten. Noch während jener tödlichen Umarmung – drei keuchende, schweigende junge Männer, die eine Todespolka tanzten – hatte einer der Beteiligten unvermittelt losgelassen, und scheinbar genau in Tony Puentes Gesicht fand die größte Explosion aller Zeiten statt. Und der Polkapartner legte den Kopf auf Tonys Schulter, nahezu wie eine junge Studentin auf dem Collegeball, und während die Gehirnflüssigkeit des Mannes austrat und ihm in den Nacken lief, hielt Tony ihn immer noch fest in den Armen, tanzte weiter mit ihm herum und sagte: »O nein o nein o nein!«
Tony Puente legte seinen Tanzpartner auf die Erde, und als er dabei sah, daß wahrhaftig alles – Gehirnflüssigkeit, Blut, Gehirnmasse selbst – aus ihm herauslief, brüllte er Big Ugly an: »JOE, DU BIST BESCHEUERT! DU HAST DEN KERL ERSCHOSSEN! ER WOLLTE MIR GAR NICHTS TUN, JOE!«
Aber Joe Vasquez rannte inzwischen hinter Manny und dessen Gangster her und hörte Tonys Gebrüll nicht.
Als Joe Vasquez dann zurückgerannt kam, sagte er: »Bist du okay, Tony?«
»Warum hast du ihn erschossen?« schrie Tony.
Big Ugly sagte: »Tony! Er wollte dich erstechen!«
»Ich hab kein Messer gesehen«, sagte Tony.
Joe Vasquez zeigte nach unten, auf den Körper des stöhnenden und röchelnden Gangsters. Und da war es. Eine lange Klinge, deren Griff mit Isolierband umwickelt war. Ein Messer zum Erstechen.
Die Border Patrol flog mit ihrem Hubschrauber ein, nachdem sie die Notrufe empfangen hatte. Als sie etwa zehn Meter neben dem Tatort landeten und die Rotoren buchstäblich alles in den Deadman's Canyon wirbelten, sagte Manny Lopez: »O Scheiße!«, bevor sie dann die zwei noch lebenden Gangster abtransportierten.
Ken Kelly genoß seinen freien Abend, indem er versuchte, die Sache mit seiner Frau wieder ins rechte Lot zu bringen. Wenn man's genau nimmt, lagen sie auf dem Fußboden, sahen fern und wohnten einander bei, als er mit einemmal die Durchsage hörte, die sich die Frauen seit inzwischen fünfzehn Monaten anhören mußten. »Schwere Schießerei an der Grenze! Filmbericht folgt!«
Damit war's mit dem Beiwohnen zu Ende. Vor allem, als der Sprecher hinzufügte: »Mindestens ein Toter!« Er sagte nicht, wer es war.
Ken Kelly raste weinend die Interstate 5 runter. Er wohnte zwölf Minuten von der Station entfernt. Er schaffte es in nur fünf Minuten. Auf der Station traf er Carlos Chacon, der sich aufführte, als hätte er allein gerade die
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