Die San-Diego-Mission
Worten, wenn der Durchschnittsbürger nur etwas mehr über die Allgegenwärtigkeit von Soziopathen auf der einen und die Seelenlage von Unschuldigen, Geiseln oder Opfern auf der anderen Seite wüßte, würde er sicher nie derart hirnlose Gedankenspielchen wie jenes Was-ich-in-Auschwitz-anders-gemacht-hätte betreiben.
Und der Gedanke ließ sich fortsetzen.
Ganz bestimmt waren unter den Grenzgängern in dieser Röhre nicht gerade die schwächsten, duldsamsten und unterwürfigsten Einwohner von Mexiko. Die nämlich fanden sich mit ihrer Situation ab. Im Gegenteil, nur die mutigsten kamen, deren Courage über jeden Zweifel erhaben war. Tatsache ist, daß die Kinder und Enkel illegaler mexikanischer Einwanderer seit eh und je mit mehr Orden ausgezeichnet wurden als jede andere Volksgruppe, die für die Vereinigten Staaten kämpfte. Insofern reagierten die Grenzgänger in diesem Tunnel auf die plötzliche nackte Gewalt ganz instinktiv, als sie sich gewissermaßen unterwarfen, unbewußt in der Absicht, den Aggressor aus der Demutshaltung heraus zu überwinden. Wie Millionen Unschuldiger, Geiseln und Opfer vor ihnen.
Rosa Lugo und Esther steckten bereits tief im Tunnel, als mit einemmal fünf Eindringlinge reinplatzten und mit Flüchen und Fußtritten über das Pollovolk herfielen. Sie hörten, wie Glas zerschepperte. Sie hörten Schläge und Schmerzensschreie. Dazu Drohungen, die Pollos unverzüglich zu erschießen, aufzuschlitzen und zum Krüppel zu schlagen, wenn sie nicht sofort gehorchten.
Und zwanzig Pollos, ein einziger ausgenommen, der in panischem Entsetzen flüchtete, gehorchten tatsächlich, wenngleich die Schläge und Schreie auch danach nicht aufhörten. Sozusagen als Zugabe, oder nur so zum Spaß. Rosa Lugo drückte ihre Tochter gegen die urinbeschmierte Tunnelwand, wagte nicht zu atmen und flehte zu Gott, daß die Gewalttätigkeiten aufhören und die Gangster sich nicht weiter in die Finsternis vorwagen sollten. Egal, wer sie waren.
Fünf von diesen Pollos machten später vor der Polizei ihre Aussagen. Diese fünf Männer waren achtzehn bis dreißig Jahre alt. Sie waren ganz durchschnittliche Grenzgänger, die bisher versucht hatten, mit angenehmen Phantasien über einen künftigen Job für sage und schreibe 15 Dollar pro Tag die nächtliche Kälte zu vergessen, die aber jetzt, nachdem die Eindringlinge in den Tunnel geplatzt waren, kaum ihre Eingeweide unter Kontrolle halten konnten. Die Eindringlinge hatten diese drahtigen campesinos total gelähmt, obgleich sie schuften und ackern und sich schinden konnten wie Arbeitsameisen und jeder von ihnen kräftiger war als ein durchschnittlicher Amerikaner vergleichbarer Größe. Sie hatten vom ersten Moment an vermutet, daß es sich bei den Eindringlingen um Gangster handelte, und sie hofften jetzt bloß, daß sie nicht wie diese Gangster aus den Canyons waren, die einem, wie sie gehört hatten, die Knie zerschossen, die Kehle aufschlitzten oder die Kniesehnen zerschnitten, nur um die übrige Gruppe einzuschüchtern. Gangster, von denen nachts am Lagerfeuer andauernd erzählt wurde, sie hätten Juan, Ernesteo, Julia oder wen auch immer gnadenlos umgebracht. Diese Eindringlinge allerdings waren nicht mal Männer.
Es waren Knaben. Halbwüchsige Straßengangster aus Tijuana. Die vielen kräftigen Männer im Tunnel wären in der Lage gewesen, sie an einer Hand verhungern zu lassen, aber sie hatten gegenüber diesen Pollos einen enormen Vorteil, und sie wußten es. Sie waren bösartig, aggressiv und gewalttätig, ohne den geringsten Anflug von Mitleid oder Bedauern. Sie waren das genaue Gegenteil dieser älteren und stärkeren Männer; denen erschienen sie als überwältigend mächtig. Und sie parierten ohne jeden Mucks.
Ihr Anführer sagte: »Wir haben Kanonen und Messer. Möchte jemand unsere Messer spüren?«
Die Grenzgänger stöhnten auf und flüsterten, und einer von ihnen flehte um sein Leben, weil er, wie er sagte, acht Kinder habe. Einer der kleinen Verbrecher fand das förmlich zum Schießen, nahm einen Schluck aus einer Flasche mit russischem Wodka (auch den gibt's in Tijuana) und prostete acht künftigen Waisenkindern zu. Sie inszenierten eine Terrorshow in der Art richtiger Profis, diese fünf jungen Strolche, und bei alledem konnte man wahrscheinlich sogar davon ausgehen, daß sie gar keine Schußwaffen und vielleicht nicht mal ein Messer bei sich hatten, weil solche Gangsterknaben im allgemeinen schon sehr früh wissen, wie eine Gruppe von
Weitere Kostenlose Bücher